Die Kunst des Nähens - Teil 1
- Vensch
- 8. Okt. 2023
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Okt. 2023
Ein platonischer Liebesbrief an Bernadette Banner

Make, Sew and Mend — Traditional Techniques to Sustainably Maintain and Refashion Your Clothes
(Die Kunst des Nähens — Traditionelle Handnähtechniken für eine perfekt angepasste Garderobe)
Bernadette Banner
Ersterscheinungsjahr 2022
199 Seiten
9/10
Vor einiger Zeit bin ich bei Youtube in die Parallelwelt der Nähkanäle geraten - zunächst angelockt durch Hazariel Costumes, die gloriose Kostüme näht und verrückte Accessoires bastelt, stieß ich schließlich auf Bernadette Banner. Lange schlich ich um ihre Videos herum, weil mir schon schwante, was das auslösen würde. Wenn ich Leute hübsche Dinge herstellen sehe, juckt es mir immer in den Fingern. Aber ich weiß auch, dass man sehr viel Zeit investieren muss, um eine neue Fähigkeit zu erlernen.
Über Bernadette Banner

Bernadette Banner, diese charmante Youtuberin, die ihren eigenen Stil als „hexenartiger Sherlock Holmes” (witchy Sherlock Holmes) bezeichnet, beschäftigt sich auf ihrem Kanal mit historischer Kleidung, wobei sie recherchiert, wie diese aussah, hergestellt und genutzt wurde. In ihren Videos versucht sie, den Herstellungsprozess zu rekonstruieren, dabei näht sie größtenteils mit Hand oder auf historischen Nähmaschinen. Ihr Hauptfokus liegt auf angloamerikanischer Mode aus dem 19. Jahrhundert. Dies umfasst die Regency-Ära (ca. 1795–1837), die viktorianische Zeit (1837–1901) und die Edwardische Epoche (1901–1914). Neben ihren Nähprojekten, die nach eigener Aussage keine Tutorials sondern „was fürs Auge” sind, veröffentlicht sie Blogs und Analysen von historischen Kostümen in Filmen, Serien, auf Buchcovern und bei billigen Onlineportalen.
Das Schauen ihrer Videos ist ein Fest für jedermann, nicht nur für Nähinteressierte. Bernadette brennt für ihr Thema, mit absoluter Begeisterung und Hingabe, und es ist äußerst inspirierend, ihr dabei zuzusehen. Ihre schrullige Ausdrucksweise (eine Mischung aus Millennial und Zeitreisender aus dem 19. Jahrhundert) macht großen Spaß.
Meine Motivation Nähen zu lernen
Nähen ist eine dieser praktischen Fähigkeiten, von denen jeder ein bisschen was verstehen sollte, wie zum Beispiel leichte Tischlertätigkeiten oder Elektrik für Anfänger.
Für mich ist die Idee, selbst Kleidung herstellen oder auch nur reparieren zu können, vor allem deshalb charmant, weil ich es verabscheue, Kleidung kaufen gehen zu müssen (landläufig „Shoppen" genannt).* Und wenn ich etwas Passendes gefunden habe, darf das am besten für die Ewigkeit halten. Wenn es nach mir ginge, würde ich meine Lieblingskleidungsstücke sofort wieder kaufen, wenn sie unweigerlich irgendwann am Täglich-getragen-Werden kapitulieren. Stattdessen muss ich darauf warten, dass ihr Schnitt wieder in Mode kommt oder auf Secondhand-Ware hoffen, immer wieder auf die Jagd gehen und mich durch volle Innenstädte schlagen (mit bestellen und zurückschicken und meinem schwierigen Verhältnis zur deutschen Post, die ihre nicht zugestellten Pakete fröhlich in einem 3-km-Radius um mein Haus verteilt, wollen wir gar nicht erst anfangen). Wie schön dagegen die Idee, zu Hause zu sitzen und zu nähen.**
Das Buch
Nach dieser übertrieben langen Vorrede nun zum Buch. Zunächst ist festzustellen, dass ich mir die englische Ausgabe geholt habe. Das Buch gibt es auch auf Deutsch, wo dem Käufer auch deutlich mehr versprochen wird als im englischen Original. Da heißt es: „Die Kunst des Nähens - Traditionelle Handnähtechniken für eine perfekt angepasste Garderobe”, wo das Original nur mit dem Angebot aufwartet zu erlernen, wie man Kleidung herstellt, näht und repariert: traditionelle Techniken, um die eigene Kleidung nachhaltig zu erhalten und zu ändern („Make, Sew and Mend -Traditional Techniques to Sustainably Maintain and Refashion Your Clothes”). Von einer perfekt angepassten Garderobe ist das weit entfernt, vor allem, da nur die Grundtechniken Gegenstand des Buches sind und nicht irgendwelche wie auch immer gearteten fortgeschrittenen Schneidertechniken. Vielleicht ist das deutsche Buch ja deshalb ein kleines bisschen teurer.*** Hauptgrund war aber die einfachere Referenz zum englischen Nähcontent sowohl der Autorin selbst als auch des deutlich größeren englischsprachigen Internets. Nur die Kommunikation mit dem nähenden Bekanntenkreis stockt zuweilen. Aber dafür schreibe ich ja hier einen deutschen Blog und gucke schön brav alle Fachtermini nach, die zuweilen recht spaßig sind.
Der Ratgeber ist folgendermaßen aufgebaut: Er beginnt mit dem Anfang: vorbereitende Arbeiten, eine kleinen Materialkunde (gängige Materialarten, wie man Naturfasern erkennt (man zündet sie an oder packt sie in Bleiche)), Webrichtungen (Kette und Schuss), Bügeln, Markieren und Ausschneiden. Dann folgt eine Einführung in die gängigen Sticharten (Vorstich, Rückstich, Überwendlingsstich, Heftstich, Grätenstich) und benötigte und optionale Werkzeuge. Dann kommen einige einfache Anwendungen (Nähte versäubern, Verschlüsse (Knöpfe, Haken, Ösen), ein paar verspielte Boni: Falten, Raffungen, Biesen, Smokarbeit, Spitzeneinsatz). Danach gibt es einfache Anpassungsarbeiten (Säume, Zwickel, Taschen) und Vorsorge und Reparatur (Stopfen, Flicken, Knöpfe justieren). Zwischen den einzelnen Kapiteln gibt es jeweils Features (insgesamt fünf), in denen verschiedene Paradiesvögel, die gerne nähen und sich unorthodox kleiden, ihre Geschichten erzählen. Das hätte es für mich nicht unbedingt gebraucht, stört aber auch nicht übermäßig.
Zum Schluss gibt es ein Fazit gegen Fast Fashion. Es ist Bernadettes ausdrückliches Anliegen, sich dagegen einzusetzen, dass Kleidung schnell und trendbezogen designt und zu niedrigen Preisen produziert und verkauft wird. Dabei geht es ihr zum einen um den ökologischen Aspekt:Bbillige Kleidung besteht zu weiten Teilen aus Plastik, das zudem als Wegwerfartikel wahrgenommen wird und das nicht für eine lange und nachhaltige Lebensdauer ausgelegt ist. Da bin ich ganz ihrer Meinung, auch wenn ich noch nach einem natürlichen Stoff suche, der fällt wie Polyester und den man nicht bügeln muss. Hätte ich eine Bügelkraft und einen Handwaschautomaten, würde ich auch nur noch Leinen und Wolle tragen.
Der zweite Aspekt, der sie bewegt, ist die unethische Herstellungsweise und dort rieche ich ein etwas komplizierteres Bild. Zwar bin ich grundsätzlich nicht der Meinung, dass für meinen billigen und bequemen Konsum Ausbeutung stattfinden sollte. Aber mich beschäftigt die Frage, was mit den Menschen passiert, die da ausgebeutet werden, wenn ihre Arbeitsplätze wegfallen, weil alle Menschen weniger konsumieren. Die Menschen arbeiten vermutlich unter solchen Bedingungen, weil ihnen die Alternativen fehlen. Solange diese nicht geschaffen sind, stürzt man mit seinen hehren Zielen potentiell Millionen von Menschen in noch bitterere Armut.
Fazit

Die Autorin hat das Buch in drei Monaten geschrieben (Blog dazu hier), da muss die Frage erlaubt sein, ob es möglicherweise mit der heißen Nadel gestrickt ist.**** Tatsächlich ist das Ergebnis sehr rund, die Bilder sind äußerst ästhetisch und das Geschriebene kohärent und gut verständlich, obwohl ich nicht beurteilen kann, ob das Buch aus sich heraus, ohne vorher die Videos gesehen zu haben, Sinn ergibt. Hier und da hat sich ein kleiner Fehler eingeschlichen (zum Beispiel Verweise auf falsche Seitenzahlen innerhalb des Buches), aber mir ist bisher noch kein Buch ohne Fehler untergekommen. Insgesamt richtet sich der Ratgeber vor allem an Anfänger, Fortgeschrittene werden wenig mitnehmen, aber mir hat es sehr geholfen und es gibt einige Dinge, die ich gerne bald ausprobieren möchte.
Fortsetzung folgt.
* Eine kleine Ausnahme bilden noch nicht gelifestylte Second-Hand-Läden. Dort wird der Abenteurer und Schatzsucher in mir wach. Außerdem läuft dort selten zu laute Musik und kein qualifizierter Verkäufer fragt freundlich „wie kann ich Ihnen helfen?", wo ich mir doch nicht mal selber zu helfen weiß.
** Mir ist mittlerweile aufgefallen, dass Stoff nicht aus dem Äther fällt. Den muss man immer noch kaufen. Aber wenn man einmal das richtige Schnittmuster hat, hat man das Problem wenigstens verlagert, wenn auch nicht gelöst. Das fühlt sich nach Fortschritt an.
*** Es liegt an der Buchpreisbindung.
**** Dieses grandiose Wortspiel musste ich unbedingt verwenden.
Die kleinen Taschen und die Bekleidung für alte Puppen, einfach nur schön.
Leider bin ich völlig untalentiert für solche Sachen😔
Liebe Grüße
Petra
Kleidung für Püppi. Von deinen Nähkünsten bin ich total begeistert und es ist so schön beschrieben, dass das Lesen echt Spaß macht. Liebe Grüße Brigitte
Sehr schön zu sehen wie viel Spaß (und Zeit) du zum Nähen hast!
Es gibt an der Nähmaschine einen speziellen Stich für dehnbare Stoffe. Mit dem dürfte der Faden nicht reißen!
Für große Köpfe gibt es spezielle Tricks - einfach mal nachschauen wie das bei den Shirts für Babys gemacht wird!
Liebe Grüße
Miriam
Always insightful. Good work. 😀
Es regnet, endlich Zeit, die Beiträge zu lesen und nicht nur wahrzunehmen. Macht Freude, das zu lesen und obwohl ich das Buch und die Videos nicht kenne, kann ich mir eine Menge vorstellen! Biene
Sehr schön geschrieben!
Liebe Grüße
Christina