Marie Kondo - ein Nachtrag
- Vensch
- 6. Sept. 2020
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Feb. 2023
Gelebte Lektüre

Letzten Monat war ich unvermittelt an einem Bücherschrank vor der Humanwissenschaftlichen Fakultät über Marie Kondos Buch "Magic Cleaning - wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert" gestolpert und hatte es in einem Anfall von Großmut mitgenommen.
Immer mal wieder war mir in den letzten Jahren im Netz der Marie-Kondo-Trend über den Weg gelaufen. Zudem hatte ich mich bisher immer dagegen gesträubt, einen "Lifestyle" - Ratgeber (oder auch nur irgendeinen Ratgeber) zu lesen. Wer aber eine Allgemeinbildung anstrebt, die diesen Namen auch verdient hat, muss wohl jedem Genre eine Chance gegeben haben. Schließlich führt uninformiertes Die-Nase-Rümpfen nicht zu tieferen Einsichten. Man darf ja durchaus Sachen doof finden, dann aber bitte mit Grund (wer zum Beispiel Nina George gelesen hat, darf diese legitimerweise als furchtbarste Vertreterin trivial-sexistischer "Frauenliteraur" empfinden).
Ich nahm das Buch also mit und las es in kurzer Zeit, was nicht zuletzt durch die Handlichkeit, die Einfachheit der Gedanken und die recht dürftige Informationsdichte des Schreibstils erleichtert wurde. Trotzdem sprachen mich die vermittelten Gedanken zum Aufräumen als Selbstfindungsprozess an. Ist die sogenannte KonMarie Methode ein Erfolg? Oder doch eher eine ConMarie Methode? (Man verzeihe mir den englischen Wortwitz.) Das galt es herauszufinden.
Noch einmal kurz die Kernthesen des Buches:
In einem Rutsch alles perfekt aufräumen (einmal und für alle Zeit)
Erstmal aussortieren: Kleidung, Bücher, Papiere, Kleinkram, Erinnerungssachen (in genau dieser Reihenfolge)
Man muss jedes Teil in die Hand nehmen und fragen, ob es einen selbst glücklich macht (im Zweifel weg damit)
Durch den Aufräumprozess bildet sich die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und zu erkennen, wer man ist, was man sucht und was man vom Leben möchte
Reizüberflutung vermeiden, niemals stapeln (dann ist zu viel da)
Mit Gegenständen reden
Dabei wird der Besitz - angeblich - auf bis zu 1/3 der Ausgangsmenge reduziert
Ich startete das Unterfangen mit einem sehr selbstgefälligen Gesichtsausdruck. Schließlich bin ich grundsätzlich ein ordentlicher Mensch, vom Typ her eher Minimalist und kaufe selten etwas Neues. Zusätzlich sortiere ich für mein Leben gern, habe ein gutes räumliches Sehvermögen und bin ein Freund von Effizienz (ich bin nicht umsonst vor kurzem für einige Tage auf dem Computer-Sortierspiel 'Wilmots Warehouse' hängen geblieben). Meine Wohnung ist auch nicht sehr groß, 42m² Bodenfläche (mit viel Dachschräge), kein Keller.
Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass ich nicht gerne Dinge wegschmeiße. Schließlich kann man ja alles noch mal brauchen, geht nicht gerne einkaufen, hat stolz immer alles zur Hand und hat durch Corona und eine abgeblasene Fernreise vielleicht doch etwas mehr Vorräte angehamstert als gedacht.
Schritt 1: Kleidung
Beim ersten Punkt, der Kleidung, wähnte ich mich absolut auf der sicheren Seite, ich hatte bereits immer wieder aussortiert. Dann aber kam das KonMarie-Kriterium. Nicht "könnte man das noch mal brauchen?", "habe ich da nicht zu viel für bezahlt, um es wegzugeben" oder gar "sieht das nicht eigentlich ganz schön aus, so ganz abstrakt wie es da hängt?" sondern "macht es mich glücklich?". Zynisch dachte ich vorher "dann hätte ich ja hinterher gar nichts mehr anzuziehen" (übrigens auch die Reaktion aller männlichen Gesprächspartner, denen ich von meinem Vorhaben erzählte).
Aber tatsächlich, kaum hielt ich die Dinge in den Händen (anfassen, jedes Teil einzeln, ganz wichtig), erwischte ich mich bei Gedanken wie "darin habe ich immer schön warme Knie" oder "das fühlt sich so schön weich an". So weit, so gut.
Komplett anwenden konnte ich die Methode trotzdem nicht, sonst müsste ich demnächst auf allen förmlicheren Anlässen in Jeans und Bluse erscheinen. Das würde mich wohl auch nicht wirklich glücklich machen (zumindest mit dem Wissen, dass es die Braut unglücklich macht).
Die Lektionen über Stauraum dagegen waren prima. Es ist eine gute Idee, alles in kleinere Kisten zu unterteilen und deren Deckel ebenfalls als Pseudoschubladen zu verwenden. Denn im Schrank muss kein Deckel drauf, wichtig ist, dass man sehen kann, was man besitzt, dann vergisst man es nicht. Das Highlight des Kleiderschranks ist jetzt der ehemalige Deckel eines Bestecksets (von dem man den Karton ja noch mal gebrauchen könnte), das nun als Schublade im großen Fach dient.
Die angekündigte Reduktion ist nicht zu Stande gekommen. Ich hatte aber auch keine Kleidungsstücke, an denen noch Preisschilder dran waren oder gar welche, an deren Kauf ich mich nicht erinnern konnte (so wie es Frau Kondo von einigen ihrer Kundinnen berichtet).
Schritt 2: Bücher
Hier bin ich sofort gescheitert. Laut eigener Aussage nennt Marie Kondo nur 30 Bücher ihr Eigentum. Das halte ich für verrückt. Ich habe allein 30 Ausgaben der Harry-Potter-Bücher in verschiedenen Sprachen.
Allerdings schränkt sie selbst ein: falls man 10 Bücher nennen könne, die man mehr als einmal gelesen habe, sei man möglicherweise ein Sonderfall. Diesen Rettungsanker schnappte ich mir und warf ihn zusammen mit dem Unterfangen über Bord. Tatsächlich habe ich seit ca. 10 Jahren jedes Jahr um die 50 Bücher neu in meinen Heimvorrat integriert und auch immer wieder einiges aussortiert. Bei meinem Lesepensum bräuchte ich aber auch nur um die 5 Jahre, um alle knapp 400 Bücher in meiner Wohnung zu lesen (Gesetze, Kochbücher und Sprachlernbücher sind natürlich abzuziehen). Zu viele (noch) nicht gelesene Bücher habe ich also nicht. Trotzdem habe ich ein paar aussortiert, die in ausgewählte öffentliche Bücherschränke wandern, damit wieder alles ins Regal passt. Rausgeflogen sind vor allem Kochbücher, die Rezepte für Nudeln mit Tomatensoße enthalten, die ich zum Auszug geschenkt bekommen habe. Man hat dann eben doch recht viele Bücher, bei denen es sich, wie meine Mutter sagt, nicht lohnt, sie ein drittes Mal zu lesen.
Teil 3 Papiere (oder so):
Tatsächlich habe ich mich nicht sklavisch an die (ganz wichtige!!) Aussortierreihenfolge gehalten. Aber ich bin ja schon bei Schritt 2 aus dem Muster gefallen. Ich bin also wild in die Sichtung der Memorabilia eingestiegen, unterbrochen von den Gesellschaftsspielen, der Kunstkiste, den Dekoartikeln, dem Bad und dem Notenordner. Besonders heikel war wie eh und je die Elektronik. Wenn ich nicht weiß, was es ist, schmeiße ich es ja auch nicht weg, oder? Doch, sagt Marie Kondo. Macht ja nicht glücklich. Kauft man dann eh neu oder holt einen Fachmann, weil man es ja nicht versteht. Ist sicherlich nicht ganz falsch, aber doch etwas zu tollkühn für mich.
Also habe ich versucht, mich mit dem ewigen mache-ich-später-Elektroschrott-in-Spe auseinanderzusetzen (denn “irgendwann kommt nie”, sagt Marie). Jetzt weiß ich, wie ein Motherboard aussieht, dass man Windows 8 derzeit noch auf 10 upgraden kann und dass ich ein chinesisches Nokia besitze. Dafür habe ich meinen Vorrat von Computermäusen von 4 auf 2 reduziert, bin die Tastatur, die Silvester 2016 mit Kaffee vollgelaufen ist, los und habe die USB-zu-Mini-USB-Kabel von 7 auf 3 gedrückt.
Frau Kondo sagt "Mut zum Plan B", es gäbe immer eine Lösung, der man sich durch übermäßigen Besitz nur verschließe. Möglich. Generell versuche ich dennoch, von den meisten häufig genutzten Gegenständen zwei zu haben (zwei paar Turnschuhe, eine zweite Maus, eine zweite große Pfanne..), diese Reservehaltung lasse ich mir auch nicht kondozieren.* Allerdings reichte mir die Hälfte meiner vorher besessen Teekannen.
Getrennt habe ich mich dafür von sehr viel Papier. Früher vertrat ich die Ansicht, es wäre toll, alles nachvollziehen zu können, was ich je gemacht habe. Damals war ich aber auch noch sehr jung und hatte nicht besonders viel gemacht. Mit zunehmendem Alter muss man sich so viele andere Dinge merken, dass man auch mal getrost vergessen darf, dass man 2014 in der Cafeteria des Klinikum Herford einen Latte Macchiato und ein Mettbaguette verzehrt hat (Begebenheit frei erfunden).
Auch braucht man nicht jede Rechnung der letzten 10 Jahre (z.B. für ein Shampoo, das man 2011 im Jibi gekauft hat). Trotzdem muss man als Deutsche ja doch so einiges an Unterlagen aufheben, FÜR DEN FALL. Das Finanzamt schläft nicht.
Früher hätte ich auch nicht geglaubt, dass mir so elementare Fehler unterlaufen würden, wie Dinge zu kaufen, die man bereits hat. Bis ich den entstandenen Haufen mit Frischhaltefolie und Gefrierbeuteln vor mir sah, die nirgends mehr recht dazugepasst hatten und somit in den freien Lücken im Schrank gelandet und vergessen worden waren. Dabei kann ich mich gar nicht erinnern, überhaupt schon mal eine Frischhaltefolie aufgebraucht zu haben. Dieser Punkt geht also an Frau Kondo.
Sie betont zudem gerne, dass alle Dinge eine "Adresse" bräuchten (das halte ich übrigens für eine seltsame deutsche Übersetzung, heißt es in der englischen Fassung doch "Home", also "Zuhause", was ich deutlich treffender finde). In vielen Fällen stimmt das wohl. Ob das aber auch für mein Portemonnaie zutrifft, weil ich meine Tasche jeden (!) Abend ausräumen soll, um sie dann morgens neu zu packen, das wage ich doch stark zu bezweifeln. Da kann ich auch der "wenn Sie sich morgens spontan für ein anderes Outfit entscheiden brauchen Sie eh eine andere Tasche und müssten die dann in aller Eile und Stress umpacken" - (Frauen-)Logik von Frau Kondo nicht ganz folgen. Ich habe einen Rucksack, eine Sporttasche und eine "Handtasche" für den Fall, dass ich nicht viel brauche (was selten ist, zumal ich oft an Bücherschränken vorbeikomme und dann immer froh über zusätzliche Tragekapazitäten bin). Daher wohnt mein Portemonnaie in meinem Rucksack, genau wie die 27 anderen Dinge, die ich dort für jeden Fall verstaut habe. Ich finde es auch nicht schlimm, wenn in jeder Tasche dieselben Pfennigartikel zu finden sind. Ich weigere mich, jeden Tag meine Oropax, Hygieneartikel und Kleingeldreserven umzuschichten. Außerdem hat das Methode. Wenn ich mein Portemonnaie mal vergesse, freue ich mich über das Kleingeld. (Würde ich es allerdings vergessen, wenn es eine Adresse hätte?)
Aktiv geworden bin ich dagegen in Bezug auf meinen Autoschlüssel, der sich grundsätzlich in der Tasche der Jacke findet, die ich zuletzt anhatte und somit auch gerne mal in der Waschmaschine landet. Der hat jetzt einen Anhänger und kommt am den Schlüsselhaken. Für immer. Hoffentlich.
Endlich getrennt habe ich mich dann auch von 16 Fläschchen Nagellack und ⅘ meines Make-Ups (ich trage keins, warum habe ich den Rest behalten?). Jetzt sieht das Bad aus, wie in einem Hotel. Wenn ich die Handtücher waschen will, schmeiße ich sie am besten auf den Fußboden, damit ich Bescheid weiß. Sogar den Fön habe ich ordentlich arrangiert. Erst dachte ich "aber wenn ich ihn dann brauche?" ja dann ist das so. Dann benutzt man ihn und räumt ihn wieder weg. Das bisschen Aufwand ist nicht schlimm. Und da hat Frau Kondo recht, jetzt muss ich nicht mehr ständig barfuß auf das Fönkabel treten und mich aufregen, nur damit ich das Gerät einmal im Monat drei Sekunden schneller zur Hand habe.
Die Küche ging schneller als gedacht. Ohne Spülmaschine neigt man eh nicht dazu, zu viel Geschirr anzuhäufen. Braucht man Milchkännchen, Zuckerdosen, Butterdosen und diese zweizinkigen Gabeln, die man bei einem richtig edlen Frühstück auf die Wurstplatte legt? Wohl genauso wenig wie die Werbetasse der Kanzlei, die keinem ästhetischen Anspruch genügt. Sollte ich jemals Hochadel zum Frühstück einladen, würde ich das sowieso nicht in meiner Wohnung tun.
Überrascht hat mich aber schon, dass es bestimmte Dinge gibt, die niemand jemals kauft, aber alle haben. Handtücher zum Beispiel. Die habe ich zum Auszug aus dem häuslichen Vorrat mitbekommen und jetzt habe ich gemerkt, dass 8 große Handtücher zu viel für einen Einpersonenhaushalt sind. Aber braucht die wer? Nein! Alle meine Freunde haben Handtücher. Und Butterdosen und Milchkännchen und diese zweizinkigen Gabeln... der Plan B ist also wasserdicht.
Letztendlich habe ich in einer Woche fast 60 Stunden in meiner kleinen Wohnung geräumt. Den ganzen aussortieren Kram loszuwerden wird sicherlich noch ein bisschen an Zeit in Anspruch nehmen, denn so rigoros wie Marie Kondo kann ich dann doch nicht wegschmeißen. Was noch gut ist, muss einen neuen Platz bekommen und Mülltrennung ist sowieso eine lebensfüllende Angelegenheit: Leuchtstoffröhre und Elektroschrott kündigen einen Ausflug zum Wertstoffhof an.
Fazit
Bin ich nun 1. Ein besserer Mensch und 2. Nie mehr in der Gefahr "rückfällig" zu werden, weil ich meine materielle innere Mitte gefunden habe?
Zu Punkt 1 würde ich ein entschiedenes vielleicht abgeben. Der Prozess hat sich auf jeden Fall gut angefühlt und ich habe mich tatsächlich intensiv mit mir selbst und meinen Prioritäten auseinandergesetzt.
Auch denke ich, dass das ein mal richtig aufräumen auf einen Schlag grundsätzlich eine gute Idee ist, weil man sonst nie ein Gesamtbild von seinem Besitz bekommt und nur dazu neigt, Dinge hin und her zu schieben.
Ich glaube allerdings, dass die Reihenfolge, die die hoch persönlichen Dinge an den Schluss setzt, weil der Spürsinn für das Glück dann bereits so weit ausgebildet wäre, ein herber Euphemismus von Frau Kondo dafür ist, dass man zu diesem Zeitpunkt so sehr mit den Nerven am Ende ist und den Prozess hinter sich bringen will, dass man möglichst viel wegwirft, nur um aus der Aufräumhölle zu entkommen.
Das prophezeite Maß an Reduktion habe ich nicht erreicht. Auch an die vollkommene Dauerhaftigkeit des abgeschlossenen Prozesses glaube ich nicht. Da ich aber die Methode auch nicht in ihrer absoluten Gänze ausprobiert habe, sage ich mal in dubio pro Kondo.*
Dann kann ich ja jetzt in meinem Kinderzimmer zu Hause weitermachen.
* Haha, kleiner Juristenwitz.
Die kleinen Taschen und die Bekleidung für alte Puppen, einfach nur schön.
Leider bin ich völlig untalentiert für solche Sachen😔
Liebe Grüße
Petra
Kleidung für Püppi. Von deinen Nähkünsten bin ich total begeistert und es ist so schön beschrieben, dass das Lesen echt Spaß macht. Liebe Grüße Brigitte
Sehr schön zu sehen wie viel Spaß (und Zeit) du zum Nähen hast!
Es gibt an der Nähmaschine einen speziellen Stich für dehnbare Stoffe. Mit dem dürfte der Faden nicht reißen!
Für große Köpfe gibt es spezielle Tricks - einfach mal nachschauen wie das bei den Shirts für Babys gemacht wird!
Liebe Grüße
Miriam
Always insightful. Good work. 😀
Es regnet, endlich Zeit, die Beiträge zu lesen und nicht nur wahrzunehmen. Macht Freude, das zu lesen und obwohl ich das Buch und die Videos nicht kenne, kann ich mir eine Menge vorstellen! Biene
Sehr schön geschrieben!
Liebe Grüße
Christina