Lektüre in Januar bis April 2023
- Vensch
- 1. Mai 2023
- 16 Min. Lesezeit
Schon wieder Kolonialismus und das 19. Jahrhundert

1. Vasco da Gama, Die Entdeckung des Seeweg nach Indien, Ein Augenzeugenbericht 1497-1499 Mit 24 Abbildungen
Hrsg. Gernot Giertz
Ersterscheinungsjahr 1980
154 Seiten
6/10
Zunächst einmal der Hinweis, dass der Titel irreführend ist: es handelt sich um eine Zusammenstellung verschiedener Augenzeugenberichte von verschiedenen Indienfahrten. Die Jahreszahlen stimmen aber. Dazu gibt es leider nur sehr wenig kontextualisierende Einleitungen, das hätte aber deutlich mehr sein dürfen. Wie so oft fehlt ordentliches Kartenmaterial. Zwar wäre das nur bedingt hilfreich, da die Matrosen häufig so wenig Ahnung von ihrer Route hatten, dass die Namen recht willkürlich aneinandergereiht sind, aber ich hätte mich gefreut. Der Verfasser hätte sich auch die Mühe machen dürfen, noch mehr Fußnoten mit berichtigenden Angaben zu machen, wenn sich die Schreiber eklatant irren (zum Beispiel bezüglich ihrer geographischen Lage und ortsansässigen Völkern). Teilweise sind die Erzählungen sehr verworren, es fällt schwer zu folgen. Dafür gibt es minutiöse Aufzählung von Waren und Preisen für hauptsächlich Gewürze (z.B. Pfeffer, Zimt, Muskatnuss).
Ansonsten enthält das schmale Bändchen jede Menge verrückte Räuberpistolen.Die portugiesischen “Entdecker” waren völlig geisteskrank und nach heutigem Verständnis sehr grausam. Man merkt dem Buch seine 40 Jahre an, der Klappentext preist da Gama unkritisch als völlig ungerechtfertigterweise weniger bekannt als Christoph Columbus. Zumindest unglaubliche Unerschrockenheit muss man diesen Leuten aber zugestehen.
Eine kleine Anekdote aus dem Buch: Die Portugiesen haben in Indien neben Gewürzen auch Christen gesucht, um sich mit ihnen gegen die Muselmanen zu verbünden. Nach eigener Angabe haben sie diese auch gefunden, die waren aber ganz exotisch und ihre Heiligen hatten sehr viele Arme und Beine (Metawissen: Es waren keine Christen. Es gab zu dieser Zeit zwar Christen in Indien, aber wenige und nicht unbedingt dort, wo da Gama und Konsorten angelandet sind).
Bonus: Little Lord Fauntleroy (Der kleine Lord)
Frances Hodgson Burnett
Ersterscheinungsjahr 1886
Hörbuch gelesen von Michael Mola
9/10
Der kleine Cedric lebt mit seiner verwitweten Mutter in New York in einfachen Verhältnissen, als eines Tages ein Anwalt auftaucht und ihnen mitteilt, dass alle Anwärter auf die Nachfolge des Earls von Dorincourt, Cedrics entfremdetem Großvater, verstorben sind, so dass Cedric nun der neue Lord von Dorincourt ist. Der kleine Junge soll nach England übersetzen und dort beim Großvater wohnen und eine gute Ausbildung bekommen. Schweren Herzens fügt sich die liebende Mutter, die das Beste für ihren Sohn wünscht, obwohl der Großvater sich weigert, sie zu empfangen. Cedrics lebhaftes, liebenswertes Wesen nimmt alle um ihn herum ein, und beeindruckt sogar den kaltherzigen, selbstsüchtigen Earl..
Ein tolles Kinderbuch mit lebensechten, gut geschriebenen Charakteren. Als ich das Buch vor Jahren gelesen habe, fand ich es schlechter als den Film von 1980, der bei uns jedes Jahr zu Weihnachten Pflichtprogramm war. Ich weiß aber beim besten Willen nicht mehr, wieso. Der Film ist sehr nah an der Buchvorlage und letztere ein großer Spaß. Gelacht, geweint, alles dabei.
Gut gelesen von Michael Mola, der seine Stimme so sehr verstellen kann, dass der kleine Junge klingt, als hätte er (Mola) Helium verschluckt und die Mutter, als wäre es eine andere Person, schon fast etwas unheimlich.
2. Soziale Gerechtigkeit: Ideen, Geschichte, Kontroversen
Thomas Ebert
Ersterscheinungsjahr 2010, 2. Auflage 2015
468 Seiten
8/10
Ein lohnenswerter theoretischer Einstieg. Ebert stellt das Thema zugänglich und gut strukturiert dar. Nach einer begrifflichen Einführung in verschiedene Gerechtigkeitskonzepte, präsentiert das Buch die wichtigsten philosophischen Denker, die sich direkt oder indirekt zu sozialer Gerechtigkeit geäußert haben und klassifiziert die Ansätze. Bekannte Namen sind etwa Aristoteles, Hobbes und Kant, aber auch moderne Denker wie Rawls und Dworkin werden vorgestellt. Im letzten Teil wird das gewonnene Wissen auf verschiedene aktuelle Fragen angewendet.
Sprachlich trifft das Buch ein gutes Gleichgewicht, die Sprache ist klar und verständlich und stellt den komplexen Inhalt gut dar. Jedes Kapitel enthält eine kleine zusammenfassende Stichpunktliste. Zum Ende hin kommt es zu einigen Wiederholungen, die jedoch eher pädagogischer Natur sind.
3. 12 Rules for Life - An antidote to chaos (12 Rules For Life: Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt)
Jordan B. Peterson
Ersterscheinungsjahr 2018
411 Seiten
8/10
Jordan Petersons zweites Buch, in dem er Tipps verteilt, wie man sein Leben möglichst gut gestalten kann. Dabei ist seine Grundprämisse, dass das Leben mit Leid einhergeht und man sein Selbst daher wo immer möglich stärken und trainieren muss.
Sein Erzählstil ist mitunter mäandernd, zum einen berichtet Peterson von Patienten während seiner Tätigkeit in der klinischen Psychologie, bringt aber auch persönliche Anekdoten ein. In gleichem Maße nimmt er populäre Medien unter die Lupe, um ihre tiefere Bedeutung zu ergründen. Besonders viel Raum nehmen dabei Dostojewski und die Bibel ein, aber auch hier und da ein Disneyfilm. Die Herangehensweise ist nuanciert und aufschlussreich, es gibt viel Interessantes zu lernen. Kleinere Flappsigkeiten halten den Leser bei der Stange. Insgesamt enthält das Buch einige unangenehme Wahrheiten, die es aber wert sind, ausgesprochen zu werden. Besonders die persönliche Geschichte von Petersons Tochter, die seit dem Kindesalter mit einer extrem einschränkenden rheumatischen Erkrankung zu kämpfen hat, hat mich sehr bewegt.
Insgesamt sehr gut zu lesen und empfehlenswert. Deutlich besser als Sam Harris.
Die 12 Regeln:
1. Stand up straight with your shoulders back (Steh gerade, mit deinen Schultern nach hinten)
2. Treat yourself like someone you are responsible for helping (Behandle dich selbst wie jemanden, für dessen Hilfe du verantwortlich bist)
3. Make friends with people who want the best for you (Freunde dich mit Leuten an, die das Beste für dich wollen)
4. Compare yourself to who you were yesterday, not to who someone else is today (Vergleiche dich mit dir gestern, nicht mit irgendjemandem heute)
5. Do not let your children do anything that makes you dislike them (Lass deine Kinder nichts tun, was dich sie verabscheuen lässt)
Gemeint ist hier die Erziehung von Kleinkindern. Peterson plädiert dafür, kleine Kinder mit (möglichst wenig) präzisen Regeln zu erziehen, die sie für ihr späteres Leben als angenehme Zeitgenossen sozialisieren. Er beschreibt, wie Kinder, die früh keine Grenzen erfahren - angeblich, damit sie sich entfalten zu können - letztlich von ihren Eltern dauerüberwacht werden müssen, da sie nie gelernt haben, welches Verhalten inadäquat oder gefährlich für sie und andere ist.
6. Set your house in perfect order before you criticize the world (Bring dein Zuhause perfekt in Ordnung, bevor du die Welt kritisierst)
Eine Lektion in Demut: Wie kann man wissen, dass der eigene Plan für die Welt diese bessern wird, wenn man nicht einmal seine eigenen Angelegenheiten ordentlich regeln kann?
7. Pursue what is meaningful (not what is expedient) (Strebe nach Bedeutungsvollem, nicht nach Opportunem)
Oft ist es nötig, kurzfristig angenehme oder einfache Dinge nicht zu tun, um ein größeres Ziel zu erreichen. Wenn man aber seinen Vorstellung eines idealen Seins nachstrebend lebt, verliert die Endlichkeit des Lebens ihren Schrecken.
8. Tell the truth – or at least don’t lie (Sag die Wahrheit, oder lüge wenigstens nicht)
Das Leben ist schon schwierig genug, aber erst Unehrlichkeit untereinander macht es wirklich höllisch
9. Assume that the person you are listening to might know something you don’t (Geh davon aus, dass die Person, der du zuhörst, etwas wissen könnte, was du nicht weißt)
10. Be precise in your speech (Sei präzise bei dem, was du sagst)
Ebenfalls eine Variante von “das Leben ist schon schlimm genug”. Bequemes Ausweichen gegenüber unliebsamen Wahrheiten führt auf lange Sicht nur zu weichem Mitläufertum, dessen Folgen schlimmer sind, als ehrliches Fürsicheinstehen.
11. Do not bother children when they are skateboarding (Stör nicht Kinder beim Skateboarden)
Der Regel liegt eine Anekdote zugrunde, bei der Spielplätze wegen ihrer Gefährlichkeit abgeschafft wurden. Peterson zufolge müssen sich Kinder aber ausprobieren, um fürs Leben zu lernen, was immer ein gewisses Risiko birgt. Dies kann nur unter Verlust lehrreicher Erfahrungen ausgeschaltet werden.
12. Pet a cat when you encounter one on the street (Streichle eine Katze, wenn du sie auf der Straße triffst)
Effektiv: Man soll die kleinen Glücksmomente auskosten, die sich zwischen dem sonst oft schweren Dasein bieten.
Bonus: A Little Princess (Sara, die kleine Prinzessin)
Frances Hodgson Burnett
Ersterscheinungsjahr 1905
Hörbuch gelesen von Vanessa Maroney
8/10
Sara Crew wird in Indien als Tochter eines reichen britischen Offiziers geboren, mit dem sie sich prächtig versteht. Mit sieben Jahren muss sie fort in die Schule, ein Internat in London. Dort wird sie als reichste Schülerin von allen bewundert und von der Leiterin Miss Minchin bei jeder Gelegenheit als Starschülerin präsentiert. Jedem normalen Kind würde dies zu Kopf steigen, aber Sara ist besonders: Sie ist intelligent, einfühlsam und diszipliniert. Gerade ihr unbeugsames Temperament aber ist es, das Miss Minchin insgeheim eine starke Abneigung für sie hegen lässt. Dies soll noch folgenschwer werden, da Sara ein schwerer Schicksalsschlag ereilt…
Ein wunderschönes Kinderbuch, ich habe gelacht, geweint und mitgefiebert. Auch wenn die Vorgänge ein bisschen dick aufgetragen sind a la Dickens, mit Kinderarbeit, dem nebeligen London und extrem glücklichen Zufällen, die das Geschehen auflösen, hatte ich viel Spaß. Wie immer erzählt Burnett nicht allzu ausschweifend, behält aber ihre Eigenart, bestimmte Wendungen in formelhafter Wiederholung immer wieder einzustreuen, bei, so dass es an einigen Stellen schon fast zu viel wird. Trotzdem schön erzählt.
Außerdem gibt es ein Sternchen für Diversität: Das Buch besteht ohne Probleme den Bechteltest und einer der besten Charaktere ist ein Inder.
4. Theorie der juristischen Argumentation - Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie juristischer Begründung
Robert Alexy
Ersterscheinungsjahr 1991
435 Seiten
5/10
Aufbauend auf einer allgemeinen Theorie des juristischen Diskurses stellt Alexy Grundregeln für das juristische Begründen auf. Aufgrund des Titels nicht verwunderlich ist das Buch sehr theoretisch. Den Teil über die allgemeine Sprachtheorie kann man teilweise vor in der Logik gebräuchlichen Formeln kaum noch verstehen.
Bezüglich des juristischen Diskurses sei folgendes festzuhalten: Unterschieden wird zwischen interner und externer Begründung. Die interne Begründung verlangt nur, dass die Argumente (zum Beispiel eines Urteils) in sich nicht widersprüchlich sind. Die externe Begründung dagegen bezieht sich auf die Richtigkeit der Prämissen, die zur Begründung des Urteils angeführt werden. Folgende Prämissen sind möglich: 1) Regeln des positiven Rechts = es wird gezeigt, “dass sie den Geltungskriterien der Rechtsordnung entspricht”, 2) Empirische Aussagen = diverse, “von Methoden empirischer Wissenschaft über Maximen vernünftigen Vermutens bis zu Beweislastregeln des Prozesses”, 3) juristische Argumentation (Gesetzesauslegung, Dogmatik, Präjudiz, Vernunft, Empirie, spezielle juristische Argumentform (z.B. Analogie, Argumentum e contrario, Argumentum a fortiori, Argumentum ad absurdum).
Zweifelsohne ist Alexy sehr intelligent, das Buch lohnt die Lektüre aber nur für den Fachmann oder extrem interessierten Laien.
5. Henry Stanley - Die Eroberung von Zentralafrika
Pierre Daye
Ersterscheinungsjahr 1937
187 Seiten
8/10
Mal wieder ein Juwel aus dem Bücherschrank gezogen!
Eine Biographie über den britisch-amerikanischen Journalisten und Abenteurer Henry Stanley (1841-1904), der mehrere Expeditionen in das Innere Afrikas unternahm und maßgeblich zur Gründung des Kongo-Freistaats unter der belgischen Krone beitrug.
Zunächst zum subjektiven Spaßfaktor: Das Buch schildert nüchtern und präzise große Abenteuer, die unglaublich anmuten. Der Autor hält Stanley für einen Helden und versteht es beim Leser Interesse und Mitgefühl für den offensichtlich schwierigen Charakter Stanley's zu entfachen. Fesselnd erzählt.
Das Buch stammt aus einer anderen Zeit, als man Kolonialismus noch unkritisch als großes zivilisatorisches Werk bejubeln konnte. Zwar wird Stanley eine wichtige Role in der Abschaffung der Sklaverei und der Besserung der Lage der Eingeborenen zugeschrieben, jedoch ist bereits die Behauptung einer "friedlichen" Eroberung kaum mit den Schilderungen des Buches in Einklang zu bringen (da würde mich doch schon interessieren, was man hätte machen müssen um unfriedlich zu erobern). Zudem muss an der Darstellung der Geschichte doch herber Zweifel angemeldet werden, da der Kongo in meiner persönlichen Erfahrung bisher immer nur als Beispiel der schlimmsten Gräuel der Kolonialzeit angeführt wurde. Ich werde mich ein wenig Einlesen und weiter berichten.
6. Deutsche Kolonien
Uwe Timm
Ersterscheinungsjahr 1981
218 Seiten
8/10
Ein Bildband über die deutschen Kolonien (Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Kamerun, Togo, Samoa und Kiautschou) mit Einführung, einem kurzen Informationsteil (7 Seiten) und Karten (<3). Abzüge in der B-Note gibt es dafür, dass die im Original farbigen Karten (aus “Das Deutsche Kolonialreich”, Leipzig 1909) schwarzweiß abgedruckt und damit extrem unübersichtlich sind.
Die Bilder sind tolle Zeitzeugen, sie zeigen unterworfene Völker, Kolonialbauten und sehr viele Deutsche in Uniform. Einige davon kannte ich bereits aus anderen Büchern. Wir rätseln noch, ob das Zebragespann vor einer Chaise eine Fotomontage ist (wenn, dann ist es wohl eine Ausnahme, da Zebras nie dauerhaft domestiziert wurden).
Der Autor hat eine sehr einseitige Sicht auf den Kolonialismus und war seiner Zeit damit etwa 30 Jahre voraus. Die kolonisierten Völker werden durchgehend positiv beschrieben, man geht soweit zu behaupten, dass aufgrund günstiger klimatischer Verhältnisse die Naturvölker in Überfluss gelebt hätten und somit zumeist auch in klassenlosen Gemeinschaften. Da hat bereits ein Leser vor mir Fragezeichen an den Rand geschrieben, wissen wir doch, dass zumindest in Deutsch-Südwest, dem heutigen Namibia, das Klima sehr rau ist und das Leben dementsprechend hart. Auch haben die Herero sich dort ihre eigene Sklavenrasse gehalten, die sogenannten Buschmänner, die sich optisch von ihnen durch einen helleren Hautton und eine deutlich kleinere Statur unterschieden. In Südost war zudem das Land bereits vor der europäischen Invasion geprägt durch den arabischen Sklavenhandel (ein Unterschied besteht darin, dass die Araber selbst Sklavenjadg betrieben und sich die menschliche Ware nicht lediglich von afrikanischen Stämmen zukommen ließen). Zumindest was die klimatischen Bedingungen angeht, widerspricht sich das Buch dann auch selbst, da es später die Klimazonen der Kolonien genau beschreibt.
Der Autor klingt in meinen Ohren recht beleidigt. So sei es ein Unding, dass es kein Standardwerk zur Gänze der deutschen Kolonien gäbe. Dieser Mangel an Überblicksliteratur über die deutsche Kolonialgeschichte ist seit Erscheinen des Buches behoben worden, ein sehr gutes Buch von Horst Gründer folgte nur vier Jahre später (siehe unten). Zwar ist das Thema nicht so zentral ins deutsche Bewusstsein gerückt, wie vom Autor gewünscht, aber das scheint mir auch unmöglich in Anbetracht der Tatsache, dass die deutsche Geschichte sehr lang ist und auch noch andere Sachen passiert sind.
7. Ein Platz an der Sonne - Die Geschichte der Kolonialreiche
Herausgeber Robert Aldrich
Ersterscheinungsjahr 2007
230 Seiten
9/10
Eine sehr gelungene Einführung in das Thema moderne Kolonialreiche.
In 13 Kapiteln unterschiedlicher Autoren präsentiert das Buch die (hauptsächlich) europäisch-christliche Expansion ab dem ausgehenden Mittelalter. Ausreißer sind das Osmanische Reich (nicht christlich), Russland und die USA (geographisch nicht Europa).
Ein Traum sind die Karten in der Einführung, in denen die maximale territoriale Ausbreitung jedes Staates zu betrachten ist und die vielen Bilder - Fotos und Kunstwerke -, die den Text begleiten.
Durch die unterschiedliche Autorenschaft entsteht allerdings der Eindruck, dass die positive oder negative Bewertung einzelner Zustände und Geschehnisse nicht zwangsläufig objektiv ist. Ob also der französische Kolonialismus inklusiver war als der anderer Staaten, will ich so noch nicht als abschließend geklärt ansehen. Auch die Sowjetunion kam mir ein bisschen zu gut weg, das kann aber daran liegen, dass die Sowjets hauptsächlich ihre eigenen Leute umgebracht und verschleppt haben und das deswegen weniger erwähnenswert ist.
Spannend sind auf jeden Fall die Ausführungen zu Skandinavien, Belgien und Italien, von denen man sonst wenig liest. Im Fall von Skandinavien liegt das wohl vor allem daran, dass die Dänen und Schweden nicht besonders erfolgreich darin waren, Kolonien aufzubauen und zu behalten. Eine schöne Anekdote sind die dänischen Zuckerplantagen in der Karibik, die im 19. Jahrhundert pleite gegangen sind, weil in Preußen die Zuckergewinnung aus Zuckerrüben entdeckt wurde, um die Seeblockaden im Zuge der napoleonischen Kriege zu umgehen. Derartige Zusammenhänge ruft man sich selten vor Augen. Bezüglich Italiens hat mich die Grausamkeit in Libyen und am Horn von Afrika unter Mussolini überrascht.
Gefehlt haben mir die modernen Kolonialmächte Israel und China.
Bonus: Emma
Jane Austen
Ersterscheinungsjahr 1815
Hörbuch gelesen von Alison Larkin
7/10
Emma Woodhouse ist jung, intelligent, reich und ledig. Letzteres jedoch ist ihr sehr recht, da sie den Haushalt ihres hypochondrischen Vaters führt, dem sie trotz seiner einfältigen Art sehr ergeben ist. Als ihre Gouvernante heiratet und das Haus verlässt, muss ein Weg gefunden werden, die aufkommende Langeweile zu vertreiben und was wäre da opportuner als Bekannte zu verkuppeln? Als Emma die junge, naive Harriet Smith kennenlernt, die im Ort in einer Mädchenschule wohnt, ist für Emma klar, dass es ihre Pflicht ist, für Harriet eine gute Partie zu suchen.
Am Anfang des Buches ist Emma unglaublich stolz und von sich eingenommen, deutet fast alle zwischenmenschlichen Beziehungen in ihrem Umfeld fehl und schadet mehr, als dass sie nützt. Von ihren Bekannten wagt es nur der alte Familienfreund Mr. Knightley sie zurechtzuweisen. Langsam wird Emma geläutert.
Wie von Jane Austen nicht anders zu erwarten, ist das Buch gut geschrieben. Besonders am Anfang aber mit gemischtem Vergnügen zu lesen, weil die karikaturhaften Personen recht anstrengend sind. Nach und nach zieht die Geschichte den Leser jedoch in ihren Bann und wird immer spannender, vorausgesetzt man kann sich für das Beziehungsdrama wohl situierter Briten um 1800 interessieren. Die gesellschaftlichen Regeln, nach denen die Charaktere agieren, sind für den modernen Leser mehr als drollig.
Die Vorleserin Alison Larkin gibt der Geschichte genau die richtige lebhafte und augenzwinkernde Stimmung.
Eine gelungene Adaption ist auch die Youtube-Serie Emma Approved.
8. Heart of Darkness (Herz der Finsternis)
Joseph Conrad
Ersterscheinungsjahr 1899
107 Seiten
7/10
Der Protagonist Marlow erzählt von seiner Zeit als Dampfschiffkapitän auf dem Kongofluss. Die dort ansässige Kompagnie ist auf die Ausbeutung von Elfenbein aus, aber Marlows Expedition hat außerdem das Ziel, den im Inland vermuteten Stationsleiter Kurz zu suchen.
Die Novelle beschreibt die Absurdität des europäischen Unterfangens, das Herz Afrikas zu erschließen. Es zeigt die Grausamkeit den Afrikanern gegenüber und das Glücksrittertum der Kolonisten.
Die Atmosphäre der Geschichte ist durchweg drückend und mystisch. Die Lektüre lohnt sich, aber viele Elemente der Erzählung bleiben vage und ungeklärt und lassen den Leser unbefriedigt zurück.
Als Vorbilder für die Figur von Kurz werden verschiedene Persönlichkeiten, die zur Zeit der Anstellung des Autors im Kongo tätig waren, vermutet, darunter auch Henry Stanley, der uns oben schon begegnet ist. In der unter 7. bewerteten Einführung zu den Kolonialreichen ist im Kapitel über Belgien eine ganze Seite dem Herz der Finsternis und Henry Stanley gewidmet, weil beide die öffentliche Wahrnehmung der Kolonialherrschaft im Kongo maßgeblich geprägt haben.
9. Deutsche Balladen
Herausgegeben Prof. Dr. Lutz Mackensen und Dr. Karlheinz Gehrmann
Ersterscheinungsjahr 1952
8/10
445 Seiten
Dieser nette Gedichtband fiel mir in einem Bücherschrank in die Hände und an Balladensammlungen kann ich einfach nicht vorbei gehen.
An Autoren enthält die Sammlung grundsätzlich das, was man erwarten würde: Goethe, Schiller, Brentano, Chamisso, von Droste-Hülshoff, von Liliencron, Heine, Eichendorff und etwas überraschend Wilhelm Busch (oft als nicht ernstzunehmende Lyrik wahrgenommen, aber recht spaßig zu lesen).
Tolle neue Funde:
Klassiker, die man erwarten würde/alte Bekannte:
Klassiker, die man erwarten würde, die aber fehlen:
Generell ist die Sammlung etwas unausgewogen, von manchen Dichtern gibt es nur sehr wenig (zum Beispiel Schiller), von anderen sehr viel (Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer, Börries Freiherr von Münchhausen, Ludwig Uhland). Auch gibt es am Anfang und sporadisch zwischendrin Gedichte in verschiedenen Dialekten zu lesen, die dem hochdeutschen Durchschnittsleser völlig unverständlich sind.
10. Das lange 19. Jahrhundert - Gebhard Handbuch der deutschen Geschichte Band 13
Jürgen Kocka
Ersterscheinungsjahr 2001 (tausendste Auflage?)
154 (187) Seiten
6/10
Band 13 des - angeblichen - Standardwerkes "Gebhard, Handbuch der deutschen Geschichte". Dieser Band ist eine Einführung zu den Bänden 14-17, die sich inhaltlich mit verschiedenen Abschnitten und Themenbereichen des 19. Jahrhunderts auseinandersetzen. In diesem Buch werden die übergeordneten Motive, die das Jahrhundert geprägt haben, beleuchtet, namentlich Industrialisierung, Nationalstaaten, Bevölkerungsexplosion und Bürgerlichkeit.
Dafür, dass das Buch so kurz ist, wiederholt es sich an zu vielen Stellen (ich habe zum Beispiel deutlich zu oft das Wort “realiter” gelesen). Der Inhalt ist tatsächlich recht verständlich dargestellt, obwohl ich das Buch nicht, wie in der Einleitung behauptet, als volksnah beschreiben würde. Große Literatur ist es auch nicht. Man kann es lesen. Am interessantesten ist fast die 10-seitige chronologische Liste wichtiger Ereignisse im Anhang, die sich ganz im Geiste moderner Geisteswissenschaften nicht nur mit politischen Themen befasst, sondern zum Beispiel auch wichtige technische Innovationen und große kulturelle Werke aufführt.
11. In Defense of German Colonialism, and how its critics empowered Nazis, Communists, and the Enemies of the West
Bruce Gilley
Ersterscheinungsjahr 2018
263 () Seiten
8/10
Mal eine etwas andere Sicht auf die Dinge. Statt kontemporäre Maßstäbe anzulegen, vergleicht Gilley die Lage in den Gebieten der deutschen Kolonien zwischen 1884 und 1914 mit der Situation unmittelbar vor und nach der kolonialen Ära unter dem Gesichtspunkt der Lebensqualität der ansässigen Völker im Bezug auf Nahrungsmittelsicherheit, medizinische Grundversorgung und persönliche Freiheiten, besonders nicht dominanter Gruppen (wie zum Beispiel nicht dominanter Stämme, Sklaven und Frauen). Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass für weite Teile der Bevölkerung die deutsche Kolonialherrschaft vorteilhaft gewesen sei. Zudem stellt er die These auf, dass die deutsche Herrschaft nur mit breiter Akzeptanz der Kolonisierten möglich war, da die Anzahl deutscher Beamter und Militärs in den Kolonien verschwindend gering war (in der relativ friedlichen Handelskolonie Togo zum Beispiel waren nie mehr als etwa 300 Weiße).
Zum Aufbau: Der Autor beschreibt kurz die jeweiligen Kolonien, beleuchtet Kolonialskandale, die häufig aufgegriffen werden, mit einer historischen Kontextualisierung und Einschätzung der zitierten Quellen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Nach seiner Auffassung beweisen einzelne, gut dokumentierte Vorfälle, dass das koloniale System grundsätzlich Rechenschaft von seinen Beamten gefordert hat, da diese nach Verfehlungen abberufen wurden. Auch stellt er das Handeln der Deutschen der Alternative der Bräuche der Eingeborenen gegenüber (die Papuas waren zum Beispiel Recht erfinderisch im Foltern später zu essender Gefangener). So sei in den befriedeten Gebieten die Bevölkerung stark angewachsen und Wohlstand habe sich messbar ausgebreitet.
Der zweite Teil beschreibt die Auswirkung des Verlusts der Kolonien auf die politische Mitte in der Weimarer Republik. Gilley zufolge habe das heute viel kritisierte Sendungsbewusstsein die europäischen Kolonialmächte in einem gemeinsamen, humanitär motivierten Projekt zusammengeschweißt. Aus diesem Bund, der in den Heimatländern zu einem politischen Konsens über internationale Verantwortung geführt habe, sei Deutschland mit Verlust der Kolonien ausgeschlossen worden. Dabei sei die Einschätzung der deutschen Kolonialadministration vor dem ersten Weltkrieg durch das Ausland durchweg positiv ausgefallen, danach aber als Vorwand für die Wegnahme der Kolonien durch denmit dem Versailler Vertrag deutlich anders dargestellt worden. Dies habe, zusammen mit anderen Faktoren, den politischen Extremen am linken und rechten Rand starken Aufwind verschafft. Der "menschenfreundlichen" Kolonialpolitik im deutschen Reich stellt er die antikoloniale Politik der Nazis gegenüber. Diese hätten rassisch motivierte Aufstände gegen die Kolonialmächte in der dritten Welt unterstützt, besonders im arabischen Raum, um Verbündete bei der Vernichtung der Juden zu gewinnen. Postkoloniale Impulse kommen Gilley zufolge maßgeblich aus der leninistisch ideologisierten DDR-Wissenschaft. Auch die DDR habe unter dem Deckmantel der Befreiung kolonialisierter Völker von Fremdherrschaft
Aufstände in der dritten Welt unterstützt, geholfen die herrschenden Regime zu destabilisieren und somit viele Menschenleben vernichtet.
Laut Gilley schadet das Postkoloniale Narrativ, das alle Afrikaner zu Opfern macht, diesen mehr als es hilft, da es den (Ent)kolonisierten ihre Eigenverantwortung abspricht für alles, was in ihrer Geschichte während und vor allem nach der Kolonialzeit passiert ist. Dies behindere die lokale Entwicklung. Statt sich auf Reparationszahlungen in Form von Almosen zu versteifen, sei es zielführender die lokale Wirtschaft anzukurbeln. Gilley widerspricht auch dem oft gehörten Argument, die Konflikte im heutigen Afrika seien auf mit dem Lineal gezogene Grenzen zurückzuführen. Zum einen sei es in den deutschen Kolonien
einiges an Aufwand betrieben worden, um die Grenzen festzulegen. Zum anderen sei die Ansicht, Afrikaner könnten nur in ethnischen Gruppen zusammenleben selbst ein rassistisches Narrativ, was zu solchen Auswüchsen wie den Homelands im Apartheidsregime in Südafrika geführt habe.
Mir hat gefallen, dass der Autor seine Meinung klar ausdrückt, Quellen bewertet und schlechte Argumente beim Namen nennt. Allerdings teilt er dabei streckenweise übertrieben gegen seine politischen Gegner aus, was die sonst nüchterne Argumentation untergräbt. Dies macht das Buch zu einer halben Streitschrift, anstatt zu einem vernünftigen Sachbuch. Ich werde noch einige Zeit über dieses Buch nachdenken und einige der angegeben Quellen nachverfolgen, um mir eine ausgewogenere Meinung zu dem gesamten Themenkomplex zu bilden.
12. Geschichte der deutschen Kolonien
Horst Gründer
Ersterscheinungsjahr 1985, 5. Auflage 2004
8/10
247 (336)
Horst Gründer bietet einen soliden Überblick über die deutsche Kolonialgeschichte. Der Inhalt ist dreigeteilt in etwa 100 Seiten Innenpolitik, 100 Seiten über die verschiedenen Schutzgebiete, auf denen deren Geschichte, Wirtschaft und Verwaltung erläutert werden und 20 Seiten Kolonialrevisionismus bis 1945. Es folgt eine abschließende Beurteilung, die nicht völlig schwarzweiß ausfällt.
Das Buch zeichnet eine nüchterne Erzählweise aus, es stellt die Materie ausgewogen dar. Das Literaturverzeichnis ist beeindruckend, die Struktur logisch und kohärent. Zu jedem Kolonialgebiet gibt es Übersichtskarten.
Die Lektüre lohnt sich, auch wenn sie etwas trocken ausfällt.
13. Afrikanisches Tagebuch
Graham Greene
Ersterscheinungsjahr 1963
124 Seiten
6/10
Zwei Tagebücher des Autors Graham Greene. Das erste stammt von einer Kongoreise des Autors 1959, während derer er Inspiration für einen Roman sammelt. Er besucht verschiedene von christlichen Missionen geleitete Leprastationen und beschreibt knapp willkürliche Begebenheiten über Land und Leute. Das Ganze bleibt episodenhaft, aber interessant.
Dahinter geklatscht gibt es ein deutlich kürzeres Tagebuch von einer Schiffsreise nach Liberia 1942. Letzteres ist aufgrund seiner Entstehungszeit während des Zweiten Weltkrieges nicht vollkommen uninteressant, aber thematisch zu lose mit dem Titelthema verknüpft. Leider hat der zweite Teil die Gesamtwertung runtergezogen.
14. Das Kairohaus
Samia Serageldin
Ersterscheinungsjahr 2000
380 Seiten
7/10
Eine ägyptische Familiensaga, die ungefähr da anfängt, wo Nagib Mahfus’ Kairo-Trilogie aufhört (in den 1950ern). Gigi (Gihan) ist die Tochter einer wohlhabenden Kairoer Familie, die unter der Herrschaft Präsident Nassers fast alles verliert. Auch unter Präsident Saddat bleiben die Zeiten stürmisch. Als freiheitsliebende, intelligente junge Frau muss Gigi ihren Weg finden zwischen Tradition und Moderne, zwischen Islam und westlicher Kultur.
Man bekommt einen guten Eindruck von der ägyptischen Gesellschaft, das Buch ist spannend. Dabei ist es recht leicht zu lesen, Weltliteratur ist es nicht (Im Gegensatz zu Mahfus). Ab und zu häufen sich triviale Gespräche und relevante Informationen werden mehrmals erzählt, dies wirkt aber nicht wie ein Stilmittel, sondern eher als Versehen. Auf schnulzige Klischees wird dankenswerterweise verzichtet. Die Lektüre lohnt sich schon.
15. Die seltsamen Methoden des Dr. Irabu
Hideo Okuda
Ersterscheinungsjahr 2004
237 Seiten
3/10
Eine Niete aus dem Bücherschrank.
Über Humor lässt sich bekanntlich streiten, aber dieses Buch ist wirklich überhaupt nicht lustig. Die vier Geschichten über den verrückten Doktor Irabu, der keinerlei Gespür für soziale Interaktion hat, sich durchgehend lächerlich verhält und seinen Patienten gern ungefragt Spritzen verabreicht, ist höchstens grotesk. Der Schreibstil ist extrem trivial, es gibt viele unnötige Dialoge und Wiederholungen. Kein Tiefgang erkennbar.
Ich habe das Buch ab Seite 50 quer gelesen. Hoffentlich ist es im japanischen Original besser.
Die kleinen Taschen und die Bekleidung für alte Puppen, einfach nur schön.
Leider bin ich völlig untalentiert für solche Sachen😔
Liebe Grüße
Petra
Kleidung für Püppi. Von deinen Nähkünsten bin ich total begeistert und es ist so schön beschrieben, dass das Lesen echt Spaß macht. Liebe Grüße Brigitte
Sehr schön zu sehen wie viel Spaß (und Zeit) du zum Nähen hast!
Es gibt an der Nähmaschine einen speziellen Stich für dehnbare Stoffe. Mit dem dürfte der Faden nicht reißen!
Für große Köpfe gibt es spezielle Tricks - einfach mal nachschauen wie das bei den Shirts für Babys gemacht wird!
Liebe Grüße
Miriam
Always insightful. Good work. 😀
Es regnet, endlich Zeit, die Beiträge zu lesen und nicht nur wahrzunehmen. Macht Freude, das zu lesen und obwohl ich das Buch und die Videos nicht kenne, kann ich mir eine Menge vorstellen! Biene
Sehr schön geschrieben!
Liebe Grüße
Christina