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Lektüre im Oktober 2020

  • Autorenbild: Vensch
    Vensch
  • 1. Nov. 2020
  • 14 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 31. Jan. 2023

Ein Zwischenstand nach der Lektüre im Oktober 2020


Diesen Monat gibt es vor allem Sachbücher und Fachliteratur. Ich habe zwar nebenbei noch ein dickes Prosa-Buch bearbeitet, bin aber noch nicht fertig geworden.

Hier also: Viel Geschichte.


55. Geschichte der europäischen Expansion, Band 1

Wolfgang Reinhard

233 Seiten

7/10

Der große Bruder zur Kleinen Kolonialgeschichte, die ich vor ein paar Wochen gelesen habe (vom selben Autor). Nun das ganze in ausführlicher und mit mehr Quellenangaben und Fußnoten.

Dieser erste Band umfasst die alte Welt bis 1818 (hauptsächlich Asien mit Schwerpunkt Indien, Malaysia und China). Hauptakteure sind zunächst die Portugiesen ab dem 16. Jahrhundert, dann die Niederländer und schließlich dringen ab dem 17. Jahrhundert die Briten nach vorn und stechen dabei die Franzosen aus. Mit im Getümmel finden sich ein paar Schweden, Dänen und Brandenburger.

Das Buch liest sich an einigen Stellen schwierig, was aber nicht schlechtem Stil, sondern dem komplizierten Inhalt geschuldet ist. Zu weiten Teilen handelt es sich um Wirtschaftsgeschichte, durchsetzt von Informationen über Schiffsbau und Kartographie. Ein deutlicher Pluspunkt sind die vielen Karten und Tabellen, auch wenn ich letztere oft nicht nachvollzogen habe.

Ich freue mich schon leidlich auf den zweiten Teil (Amerika), der vermutlich voll sein wird von nordamerikanischen Verwaltungsstrukturen. Aber auf den dritten Teil (Afrika) bin ich wirklich gespannt.

Aufschlussreich!


Bonus

The Case for Colonialism

Bruce Gilly

Academic Questions, June 2018, Vol. 31, No. 2, pp. 167–185

7/10

Der Autor argumentiert sachlich, vernünftig und unter Zuhilfenahme diverser Quellen, dafür, unser Bild vom Kolonialismus nicht von Ideologie, sondern von wissenschaftlichen Überlegungen beherrschen zu lassen.


56. Politik als Beruf

Max Weber

53 Seiten

6/10

Ein verschriftlichter Vortrag, den Max Weber ursprünglich im Rahmen einer Vortragsreihe „Geistige Arbeit als Beruf“ gehalten hat.

Es gibt ein paar Definitionen, dann eine kleine historische Abhandlung und schließlich ethische und andere charakterliche Voraussetzungen für Politiker.

Ich konnte nicht immer folgen. Dafür gibt es ausgefallene Formulierungen, wie z.B. parvenümäßiges Bramabarsieren.

Interessant.


57. Pippi Langstrumpf

Astrid Lindgren

145 Seiten

8/10

Pippi, das stärkste Mädchen der Welt, lebt alleine in der Villa Kunterbunt, weil ihre Mutter ein Engel und ihr Vater ein Negerkönig ist (in der heutigen Fassung “Südseekönig”, das Buch ist ursprünglich 1945 erschienen, der heutige Text ist nach dem Tod Lindgrens, die sich immer gegen Veränderung ihres Werkes gewehrt hatte, angepasst worden). Das macht dem eigensinnigen, selbstständigen Mädchen aber nichts aus, es erlebt jeden Tag neue Abenteuer zusammen mit den Nachbarskindern Thomas und Annika.

Obwohl ich das Buch als Kind vorgelesen bekommen haben muss, konnte ich mich nur an die Verfilmung aus den 60er Jahren erinnern, die ich sehr geliebt habe (obwohl ich immer Angst vor den Piraten im letzten Teil hatte).

Ein tolles Kinderbuch! Viele Abenteuer, liebenswerte Debakel und großartige Lacher. Ich habe das Buch vorgelesen und konnte zeitweise nicht mehr an mich halten.

Absolute Empfehlung!


58. Griechische Geschichte, von den Anfängen bis zum Hellenismus

Detlef Lotze

117 Seiten

5/10

Eine sehr knappe Einführung in die (größtenteils politische) Geschichte des Alten Griechenlands. Aufgrund der Kürze wird der Kulturteil leider unterschlagen. Dafür gewinnt man einen Eindruck des "Zusammenlebens" der verschiedenen Poleis (eigentlich ist immer irgendwo Krieg, sehr viele Leute mit sehr langen Namen bringen sehr viele Leute um). Den Bechtel-Test hätte das Buch nicht bestanden, aber drei Frauen gab es wohl doch bei den Griechen (Sappho, Alexanders Mutter und Kleopatra VII.).

Tatsächlich weiß ich jetzt mehr als vorher und habe einen an Jahreszahlen orientierten Überblick über den ständigen Bürgerkrieg, der sich griechische Kultur schimpft. Zu den wichtigsten Stichwörtern (z.B. Athen, Sparta, Attischer Seebund, Peloponnesischer Krieg, Hellenistisches Zeitalter) könnte ich jetzt möglicherweise ein, zwei Sätze sagen. Aber so richtig Spaß gemacht zu lesen hat es nicht, daher hat mir am besten das Ende gefallen, als es zu Ende war.

Zum Einstieg in die griechische Geschichte trotzdem eine widerwillige Empfehlung.


59. Sparta, Geschichte Gesellschaft Kultur

Ernst Baltrusch

124 Seiten

7/10

Eine gute Übersicht über das antike Sparta, die sich auch dem Laien unmittelbar erschließt.

Die erste Hälfte des Buches widmet sich einer historischen Abhandlung der politischen Geschehnisse, während der zweite Teil sich mit der Kultur der Spartiaten auseinandersetzt. Besonders interessant fand ich das Kapitel über die Rolle der Frau in Sparta, die sich trotz dem extrem autoritären Staatswesen wohl doch aus heutiger Sicht positiv von der Stellung der Frau in anderen griechischen Poleis abhebt. Da jedoch aus Sparta selbst kaum Quellen vorhanden sind, ist diese Erkenntnis mit Vorsicht zu genießen, ich werde dem nachgehen.

Das Buch ist durch seinen konkreten Bezug ein besserer Einstieg in das antike Griechenland, als eine komplette Einführung, die abstrakt am Leser vorbeizieht.

Empfehlung.


Bonus

Nachdem Herr Baltrusch in seinem Sparta-Buch den Spartanerinnen ein eigenes Kapitel gewidmet hat, in dem er ihre Lage als positiv den anderen Griechinnen gegenüber beschrieben hat, wollte ich Genaueres wissen. Also bin ich seinen Literaturangaben gefolgt und habe mir zwei wissenschaftliche Artikel zu dem Thema durchgelesen.


Spartan Wives: Liberation or Licence?

Paul Cartledge

The Classical Quarterly , 1981, Vol. 31, No. 1 (1981), pp. 84-105

7/10

Leider muss man sagen, dass die Quellenlage sehr dünn ist, so dass man wohl so einiges über die Spartanerinnern glauben kann. Schriftliche Quellen aus Sparta selbst liegen nicht vor. Demnach bleiben vor allem andere griechische Autoren, die in ihren Werken über Sparta berichten und ihre eigenen Motive hatten. Zudem gibt es erhaltene Regelungen aus benachbarten Gebieten, die man als den spartanischen ähnlich vermutet.

Letztlich wird man schon sagen können, dass die Spartanerinnen mehr Autonomie und Möglichkeiten hatten, als etwa die Athenerinnen, ob sie jedoch ein nach unseren Vorstellungen angenehmes Leben geführt haben, bleibt sehr zu bezweifeln. So heirateten sie vermutlich später als die anderen Griechinnen und bekamen ihre Ehemänner kaum zu Gesicht. Ob jedoch z.B. die Vielmännerehe geduldet, oder die Ehefrauen von ihren Männern 'verliehen' werden konnten, bleibt dem Interpreten der jeweiligen Schriften überlassen.


Die Frauen von Sparta: Gesellschaftliche Position und politische Relevanz

Dettenhofer, Maria H

Klio; Jan 1, 1993; 61-75,

7/10

In diesem Artikel wird die Situation der Spartanerinnen wieder deutlich positiver dargestellt. Das speist sich vor allem aus der Beurteilung ihrer gesellschaftlichen Stellung. Der Ehefrau in Sparta oblag die wirtschaftliche Führung des Haushaltes (oikos). Das war insofern relevant, als dass die Vollbürgerschaft der Ehemänner von Abgaben an die Gemeinschaft abhängig war. Wirtschaftete die Ehefrau schlecht, konnte der Mann seine Stellung verlieren. Somit ist anzunehmen, dass die spartanischen Mädchen zum einen ähnlich gut ausgebildet wurden wie die Jungen, zum anderen, dass sie nicht völlig ins Innere des Hauses verbannt wurden, wie in Athen.

Ein weiteres Indiz für die besondere Anerkennung für die Frauen speist sich aus der Tatsache, dass die Ehrungen im Kindbett verstorbener Frauen denen im Krieg gefallener Männer entsprach.



60. Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten

Alice Haruko Hasters

224 Seiten

2/10

Alice Haruko Hasters wird 1989 als jüngstes Kind einer Schwarzen (US-amerikanischen) Mutter und eines weißen Vaters geboren und wächst in Köln Nippes vor dessen Gentrifizierung auf. Sie studiert zunächst in Köln und dann in München, wo sie einen Abschluss an der Journalistenschule macht, und arbeitet seitdem unter anderem für die Tagesschau und den rbb. Was in dieser Kurzbiographie jedoch fehlt, ist Hasters' Konfrontation mit struktureller Unterdrückung und systemischem Rassismus. Deshalb hat sie 2019 dieses autobiographische Buch über (vor allem) Alltagsrassismus geschrieben. Darin beschreibt sie epidsodenhaft Erlebnisse aus Kinder- und Schulzeit, durchwirkt von ihren Gedanken zu Schwarzer Identität, Kolonialismus, Geschichte, Rassentheorien und der Gesellschaft im Allgemeinen.


Bereits auf dem Cover schaut die Autorin den Leser vorwurfsvoll an, damit dieser von vornherein weiß, worauf er sich einstellen kann. Es geht nicht um einen Dialog zwischen Gleichberechtigten, es geht um Schuldzuweisung und darum Scham (ob des weißseins) zuzulassen und sein Verhalten dem anzupassen, was Frau Hasters als adäquat empfindet.

Um ihre Botschaft zu unterstreichen, dass es in ihrem Buch um konstruktive Kritik und nicht um Gedankenpolizei oder Zensur gehe, zensiert sie alle problematischen Begriffe, wie z.B. Ind*ianer oder M**r. Um die Inklusivität des Textes zu unterstreichen, macht der Leser umgehend Bekanntschaft mit dem Gendersternchen, so dass stets von Sklav*innenhandel und gar Frauen* die Rede ist. Zudem schreibt sie “Schwarz” immer groß und “weiß” immer kursiv. Das lässt den Leser vorsorglich bei jeder noch so harmlosen Anekdote stets einen säuerlichen Tonfall hören und trennt diese von Europäern künstlich erzeugten Gruppen im Text künstlich.

Den Hauptteil des Buches machen mehr oder minder schlimm empfundene Episoden aus Hasters' Leben aus, in denen sie einen Ausdruck von “Mikro-Aggressionen” sieht (mir hat sich jedoch nicht erschlossen, wie man höfliche Fragen oder die unterbewusste Angst vor dem Unbekannten an sich als Aggression bewerten kann) und diese führen als Konsequenz zu sogenannter “Mikro-Unterdrückung”. Ich habe mich über diese Terminologie gewundert. Es gäbe möglicherweise auch “Makro-Aggressionen”, mit denen man sich auseinandersetzen könnte, aber das scheint nicht angezeigt, denn solche hat Frau Hasters nicht selbst erlebt und kann somit ihre Expertise, die sich aus dem Eine-Schwarze-Frau-sein speist, dort nicht anwenden.

Ihre größtenteils alltäglichen Erlebnisse beim Kellnern oder in der Schule (wo wohl auch der weißeste Mensch so manch eine unschöne Zeit erlebt hat, ich habe zum Beispiel Jahre lang mit Mobbing zu tun gehabt und das einfach so, weil ich ich war), durchwirkt sie mit nicht belegten Ansichten über Sozialstrukturen, Kolonialismus und Geschichte. Sie gehört zu den Menschen, die die Aufklärung für jeglichen Rassismus und die schlechtere ökonomische Stellung Afrikas, sowie den Sklav*innenhandel an sich verantwortlich machen. Dabei ist ihr vermutlich nicht aufgefallen, dass die Aufklärung der westlichen Gesellschaft die intellekutellen Mittel an die Hand gegeben hat, um sich schließlich von Rassentheorien zu lösen und nicht zuletzt dazu veranlasst hat, zum ersten Mal in der Geschichte die Sklaverei abzuschaffen (https://de.wikipedia.org/wiki/Abolitionismus). Seltsamerweise sieht sie es auch als eine Folge der Aufklärung an, dass heute Sklaverei noch immer existiert, wofür sie den “Global Slavery Incidence” heranzieht und das Beispiel Libyen benennt. Ich muss noch herausfinden, welche aufgeklärten, weißen Suprematisten dort in diesem arabischen, nordafrikanischen Land Sklavenmärkte unterhalten. Schaut man sich die von ihr zitierte Karte einmal an, ist sehr auffällig, dass die Gebiete, in denen es heute keine Sklaverei mehr gibt (Westeuropa, Nordamerika, Australien und Ozeanien) deckungsgleich sind mit den Kulturen, die die Aufklärung propagierten. Damit findet Sklaverei vor allem unter Menschen statt, die Hasters als “Schwarz” bezeichnen würde (https://de.wikipedia.org/wiki/Global_Slavery_Index#/media/Datei:Modern_incidence_of_slavery.png). Dafür die Schuld in der Aufklärung und veralteter Rassentheorie zu suchen, ist überraschend.


Auch geht es um das Phänomen der “kulturellen Aneignung”, also das Nachahmen fremder Kulturen zum eigenen Vergnügen durch Weiße, so etwa wenn man sich an Karneval als ein Klischee einer anderen Nationalität verkleidet, oder aber auch wenn weiße Menschen Cornrows tragen oder große Hintern in Mode bringen. Dass durch solche Bekundungen von Interesse und zumeist auch Anerkennung für vormals Fremdes Dinge wie etwa “Schwarze Frisuren” in den Mainstream gelangen böte zwar auch Vorteile für Schwarze, würde aber vor allem weißen zugutekommen, die daraus Profit schlagen. Wie immer bleibt die Frage offen, ob es wirklich besser ist, den Auch-Vorteil der Schwarzen geringer einzustufen als den empfundenen Doppelstandard, weil die Schwarze Frisur erst durch weiße in der Oberschicht legitimiert würde.

Früher war es übrigens nicht nur undenkbar einen Afro in einem “respektablen” Beruf zu tragen, sondern auch einen Bart. Dass sich heute mit dem Hipstertum nicht mehr jeder Banker oder Anwalt glattrasiert zeigen muss, ist Ausdruck eines generellen Trends von mehr Vielfalt und Akzeptanz. Warum ich also ein schlechtes Gewissen haben muss, mich als Pocahontas zu verkleiden, die immerhin bereits im 17. Jahrhundert verstorben ist und deren Darstellung durch Disney (natürlich) völlig von den historischen Fakten abweicht, hat sich mir nicht erschlossen.

Genauso wenig hat sich mir erschlossen, warum es keine kulturelle Aneignung ist, dass Frau Hasters' Eltern Teil einer Buddhistischen Gemeinde sind und ihren Kindern japanische zweite Vornamen geben durften. Denn wie Frau Hasters treffend bemerkt, sei es nach ihrer Weltsicht schwierig, festzumachen, wer Kultur besitzen und nutzen dürfe und wer nicht. Dass Kultur allen gehöre, sei zu pauschal. Es müsse in jedem Fall abgewogen werden, wer ihrer würdig sei. Ein sehr ineffizientes Verfahren.


Die Autorin hat sich früh entschieden, jeden Sachverhalt aus dem möglichst negativsten und unbarmherzigsten Winkel zu betrachten. Sie ist schockiert, dass sie in der Schule nichts von dem rassistischen Gedankengut, das z.B. Kant und Hegel produziert haben, gehört hat. Durch das Bildungssystem werden nur die heute noch akzeptablen und inspirierenden Beiträge dieser Autoren zur Philosophie gelehrt. Da muss eine Verschwörung im Gange sein, die die Unterdrückung Nicht-weißer im Sinn hat.

Weiterhin gibt es für Frau Hasters ein Problem mit Empirismus. Wenn man Dinge mit Zahlen belegen könne, bekräftigten diese Zahlen Vorurteile. Ich würde zwar argumentieren, dass ein zahlenmäßig belegter Umstand eine Statistik und kein Vorurteil ist, das sieht Frau Hasters aber anders. Dass man Statistiken über z.B. den Hintergrund leistungsschwacher Schüler auch zur Förderung derselben verwenden kann, ist für sie nicht denkbar. Das würde weitergedacht zu dem Problem führen, dass man keine Statistiken mehr erstellen dürfte. Das ist für Hasters jedoch irrelevant, denn wenn man nicht beweisen kann, dass Rassismus einen Einfluss auf einen Sachverhalt hat, so kann man ja schließlich das Gegenteil auch nicht beweisen. Also ist die Antwort immer Rassismus.

Manchmal auch positiver Rassismus. Der trotzdem schlecht sei, weil es keinen guten Rassismus gäbe (warum er dann “positiv” heißt, ist eine andere Frage). Was es jedoch gäbe, sei das Erlebnis weißer Menschen im Urlaub, wenn sie neugierig beäugt würden, weil man sie ob ihres Weißseins bewundere. Das sei dann jedoch erstens positiv (hier = gut) und zweitens kein Rassismus, weil damit keine Abwertung verbunden sei. Somit hat sie Rassismus zu einer Einbahnstraße erklärt. Ich glaube, dass eine Definition, die nur in ganz bestimmten Fällen funktioniert (weiße verhalten sich falsch gegenüber Schwarzen, aber nicht umgekehrt), keine gute Definition ist. Zudem bleibt die Frage, warum weiße Urlauber in bestimmten Regionen der Welt entführt werden, um von ihren vermeintlich reichen Verwandten Lösegeld zu erpressen. Wenn das kein Rassismus sein kann, muss es Pragmatismus sein.

Ähnlich fragwürdig ist Hasters’ Unterscheidung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Rassismus sei die Andersbehandlung von Menschen mit dunkleren Hautfarben, ein Ausdruck systemischer Machtstrukturen, und immer zu verdammen. Fremdenfeindlichkeit dagegen sei das Andersbehandeln von Menschen aufgrund tatsächlichen Fremdseins (also etwa von Deutschen gegen Engländer, aber auch das Verhalten von US-Amerikanern in den USA ihr gegenüber, weil sie deutsch und somit tatsächlich fremd ist). Letzteres ist für Hasters nachvollziehbar und in bestimmtem Kontext auch gar nicht so schlimm. Genauso wechselt ihre Ausdrucksweise bei diesen nachvollziehbaren Verhaltensweisen von dem bösen Wort Vorurteil weg zu dem viel freundlicheren Wort Klischee, das sie auch gerne für ihre eigenen Ansichten verwendet.


Man bekommt das Gefühl, jede noch so belanglose Anekdote endet mit der Vermutung der Autorin, es könne daran gelegen haben, das sie schwarz sei. In den seltensten Fällen handelt es sich um handfeste Hinweise, es scheint eher, als hätte Frau Hasters selbst sehr viele Ideen darüber, welche Vorurteile man gegenüber Schwarzen haben könnte und riecht sie in jeder sozialen Interaktion. Tatsächlich schreibt sie mehrfach ausdrücklich, dass sie keine konkreten Hinweise auf Rassismus hätte, wie etwa bei dem Mädchen, das sie in der Grundschule aus einer Gruppe ausschloss. Es bleibt ihr aber immer der Zweifel, ob es so gewesen sein könnte. Möglicherweise ist dies ein Problem, das mit den Selbstzweifeln von Frau Hasters mindestens genauso viel zu tun hat, wie mit ihrem Umfeld.

Auch erzählte ihr eine ebenfalls Schwarze Freundin, sie sei nicht zum Fernsehen gegangen, weil ihr jemand gesagt hätte, das deutsche Fernsehen wäre noch nicht reif für eine schwarze Moderatorin. Abgesehen von der Fragwürdigkeit, seine Lebensplanung allein auf die Aussage einer derartigen Person auszurichten, habe ich mich gefragt, ob Frau Hasters und ihre Freundin, die beide etwa in meinem Alter sind, nie “Wissen macht Ah” geguckt haben. Das ist eine Kindersendung über wissenschaftliche Fragen, in der die Moderatorin Shary Reeves (Schwarz) seit 2001 zusammen mit ihrem weißen Kollegen Ralph Caspers moderierte.

Frau Hasters wäre selbst gerne Schauspielerin geworden, das hat jedoch nicht geklappt. Möglicherweise, sinniert sie, hatte sie kein Talent. Aber möglicherweise war es auch, weil sie Schwarz war. Was für ein Glück hätten weiße Menschen, die rausfinden könnten, dass sie kein Talent hätten, weil sie eben weiß seien.

Ein weiterer Moment von Bauchschmerzen für Frau Hasters war die Wahl ihres Studiums (ein völlig einzigartiges Gefühl). Sie konnte sich nicht in einem “weiß-geprägten” Studiengang sehen und hat deshalb Sport studiert, obwohl sie das gar nicht interessierte. Denn sportlich konnten Schwarze in ihrem Kopf sein. Leider hat sie sich nur durch ihr Studium gequält, um dort ihr Interesse für Journalismus zu entdecken. Letztendlich hat sie es dann ja auch auf die renommierte Journalistenschule in München geschafft. Es ist also doch noch alles gut ausgegangen. Aber hat sie Sport wirklich studiert, nur weil sie Schwarz ist? Oder liegt es daran, dass ihr (weißer) Vater, der ihr großes Vorbild im Leben war, Sport studiert hat und sie ihm nacheifern wollte? Die letztere Erklärung gibt sie an einer anderen Stelle im Buch an.

Man bekommt den Eindruck, als kreise das ganze Leben von Frau Hasters darum, jede noch so kleine Mikro-Episode ihres Lebens durch die Linse der Hautfarbe zu betrachten und dann zu entscheiden, das sei ausschlaggebend gewesen. So ist ein ungewolltes (und möglicherweise unangebrachtes) Kompliment über ihren Hintern eine humanitäre Katastrophe, da es sich in die Kontinuität des Sklav*innenhandels und der Völkerschauen einreiht. Das halte ich für weit hergeholt. Als Frau bekommt man häufiger ungewollte Aufmerksamkeit, das ist unhöflich und respektlos, aber trotzdem verteufele ich nicht alle Männer und gehe von internalisierter Frauenfeindlichkeit aus.


Interessanterweise bringt Hasters oft die Gegenargumente ihrer Thesen ein, beschreibt dann damit unzusammenhängende historische Ereignisse und schließt nach nicht erfolgter Entkräftung damit ab, derartiges Verhalten (z.B. Verkleiden an Karneval als Ind*aner) “gehe nicht”.

Leider lässt die Autorin aber auch keine Lösung aus dem vermeintlich falschen Verhalten zu, da sie üblicherweise alle Handlungsmöglichkeiten auflistet und sie dann alle als “rassistisch” analysiert. Sie benachteiligen = Rassismus (soweit sind wir uns einig), sie bevorteilen = positiver Rassismus, auch schlecht (von mir aus), sie wie jeden anderen Menschen auch behandeln = Rassismus, weil man keine Sensibilität für ihr Schwarzsein zeigt und sie durch das Ignorieren ihrer Existenz entmenschlicht (ich bin ausgestiegen).

Wo wir gerade bei Entmenschlichung sind. Das geht auch damit einher, die Qualität als Individuum abzusprechen. Hasters ist sich sicher, dass jeder Schwarze, der ihre Meinungen nicht teilt, ein Opfer von Internalisierter Unterdrückung ist. Alle Schwarzen müssen also dieselbe Meinung vertreten. Wie sind wir von der Aussage "jeder ist ein Individuum mit eigener Meinung, egal welche Hautfarbe" zu der These gekommen, dass Hautfarbe zu einer zwingenden Meinung führt? Seit wann sind "alle Schwarzen" ein monolithisches Konstrukt? Wo ist da die Qualität des Individuums?


Hasters lamentiert auch, dass es in ihrer Jugend keine Beauty-Produkte für Afro-Haare, dunkle Haut etc. gab, was die Herabwürdigung Schwarzer Kultur belege. Der ISD schätzte die Schwarze Bevölkerung in Deutschland 2008 auf 500.000 (https://www.spiegel.de/international/germany/uncle-barack-s-cabin-german-newspaper-slammed-for-racist-cover-a-557861.html), etwa 0,6% der Gesamtbevölkerung. Von denen hatte nicht jeder Afro-Haare. Dass es für einen so kleinen Bevölkerungsanteil wirtschaftlich einen eher kleinen Markt gibt, würde ich für ökonomisches Grundverständnis halten. Zudem gibt es heute mehr Produkte (wie von allem anderen auch) für diese Sorte Haare etc. Es verbietet niemand, diese Produkte zu vertreiben. Davon abgesehen, höre ich ständig von Freundinnen mit sehr heller Haut, dass es für ihren Hautton kein richtiges Make-Up gäbe. Es könnte sich also um ein völlig wertfreies Problem handeln.

Aber wertfreie Tatsachen gibt es für Frau Hasters nicht. Alles ist rassistisch und diskriminierend. So auch die sexuellen/romantischen Präferenzen von Menschen, die schwarze Frauen benachteiligen. Das finde ich doch recht verrückt. Frau Hasters setzt sich zum Beispiel auch für “Queere” Interessen ein. Früher war ein Hauptinteresse dieser Gruppen, die Idee durchzusetzen, dass man sich seine sexuellen Neigungen nicht aussuchen könnte. Was ist persönlicher als die Partnerwahl? Seit wann gibt es ein Grundrecht auf einen Sexual/Lebenspartner? Warum muss man sich darauf trainieren schwarze Frauen (und vielleicht in letzter Konsequenz auch Männer, Asiaten oder Buchhalter?) attraktiv zu finden, wenn Frau Hasters einen Mann ablehnen würde, dessen Typ schwarze Frauen sind, weil sie nicht exotisiert werden möchte? Es gibt keinen Ausweg.


Generell hat Frau Hasters ihr Leben lang versucht, irgendwo dazu zu gehören und hineinzupassen. Möglicherweise ist das ein generelles Problem, das alle Leute haben, das in ihrem Fall durch ihre Hautfarbe zwar verstärkt wird, nicht aber das Ende unserer Gesellschaft bedeutet. Sie leidet besonders unter der Frage “Wo kommst du her?”. Unter dieser Frage leide ich übrigens auch. Ich komme nämlich aus Bielefeld. Da folgt unweigerlich immer “aber das gibt es doch gar nicht” und mein Gegenüber hält sich regelmäßig für ausgesprochen geistreich, diesen völlig neuen Kalauer gebracht zu haben. So ist das nun mal. Die Wahrheit ist, ich komme sogar nur aus der Nähe von Bielefeld und wurde in der Oberstufe immer damit geärgert, das Landei zu sein. Ich fand das nicht immer lustig, habe es aber gut überstanden. Ich könnte auch noch darüber erzählen, was man sich als Ostwestfahle im Rheinland anhören muss und wie fremd sich Köln in manchen Teilen anfühlt, aber nun gut.


Was mich besonders gewundert hat, ist die Tatsache, dass Hasters sowohl ihre Kindheit als glücklich beschreibt und danach eine gute Karriere gemacht hat und trotzdem von einem großen Unrecht ausgeht, dass ihr ihr gesamtes Leben lang angetan wurde. Völlig unreflektiert beschreibt sie das wirklich herzzerreißende Geschehen im Leben sowohl ihrer weißen, als auch ihrer Schwarzen Großeltern, die Erhebliches durchgemacht haben (Zweiter Weltkrieg, Rassensegregation). Ihre Konsequenz aus der Verbesserung der Situation ist jedoch fast nie Dankbarkeit, sondern immer die Kritik, dass ein diffuser Idealzustand noch nicht erreicht wäre. Wie dieser jedoch mit der Methode des Alles-Zerdenkens erreicht werden kann, ist mir schleierhaft. Denn auch so etwas wie Entwicklungshilfe ist für Hasters ein schwieriges Thema. Wenn man falsch helfe (etwa, um sich gut zu fühlen oder weil man die lokale Bevölkerung nicht genügend einbinde), dann solle man das lieber lassen. Das finde ich seltsam. Wirklich konstruktive Vorschläge bleiben völlig aus.


Ich möchte mit meiner Kritik nicht sagen, dass alles, was Frau Hasters je passiert ist, freundlich oder in Ordnung gewesen wäre. Würde sie diese Vorgänge ihren Freunden und Bekannten schildern oder in einem Buch, in dem es explizit um sie geht, hätte ich kein Problem damit. Ich würde es vermutlich nicht lesen, aber das muss ich ja auch nicht. Womit ich jedoch ein Problem habe, ist, die freieste, gleichste und rechtstaatlichste Gesellschaft, die es je gegeben hat, mit Diskursen über Mikro-Aggressionen zu untergraben. Das Leben ist nicht perfekt, die Gesellschaft ist nicht perfekt, aber wir können trotzdem versuchen, vernünftig miteinander umzugehen. Da hilft manchmal auch ein bisschen Humor und Nachsicht.


Das Buch bekommt in letzter Instanz eine 2/10, weil Frau Hasters durchaus schreiben kann. Ist mir ihre Darstellung auch häufig zu umgangssprachlich modern, so kann sie doch pointiert formulieren und gut erzählen. Leider fehlt es an Logik und Kohärenz, die vertretenen Thesen kann ich nicht teilen.



Komentar


Kommentare (6)

Invitado
15 may 2024

Die kleinen Taschen und die Bekleidung für alte Puppen, einfach nur schön.

Leider bin ich völlig untalentiert für solche Sachen😔

Liebe Grüße

Petra

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Invitado
19 abr 2024

Kleidung für Püppi. Von deinen Nähkünsten bin ich total begeistert und es ist so schön beschrieben, dass das Lesen echt Spaß macht. Liebe Grüße Brigitte

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Invitado
07 abr 2024

Sehr schön zu sehen wie viel Spaß (und Zeit) du zum Nähen hast!

Es gibt an der Nähmaschine einen speziellen Stich für dehnbare Stoffe. Mit dem dürfte der Faden nicht reißen!

Für große Köpfe gibt es spezielle Tricks - einfach mal nachschauen wie das bei den Shirts für Babys gemacht wird!


Liebe Grüße

Miriam



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Invitado
12 feb 2024

Always insightful. Good work. 😀

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Invitado
21 oct 2023

Es regnet, endlich Zeit, die Beiträge zu lesen und nicht nur wahrzunehmen. Macht Freude, das zu lesen und obwohl ich das Buch und die Videos nicht kenne, kann ich mir eine Menge vorstellen! Biene

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Invitado
30 jul 2023

Sehr schön geschrieben!

Liebe Grüße

Christina

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