Das Sozialkreditsystem 2023
- Vensch
- 27. Aug. 2023
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Sept. 2023
Egal, ob die Liste schwarz oder rot ist, Hauptsache sie fängt Mäuse (Chinesisches Sprichwort)

Social Credit, The Warring States of China’s Emerging Data Empire
(Sozialkredit, Die Streitenden Reiche in Chinas aufkommendem Datenimperium)
Vincent Brussee
Ersterscheinungsjahr 2023
213 Seiten
Der Autor
Vincent Brussee ist Asien-wissenschaftler mit politik-wissenschaftlichem Schwerpunkt. Nach seinem Studium in Leiden und Berufserfahrung am niederländischen Generalkonsulat in Shanghai forscht er derzeit federführend zum Sozialkreditsystem am Mercator Institute for China Studies, Europas größtem Forschungsinstitut zum modernen China. Ich hatte das Vergnügen, das Buch in einer kleinen Diskussionsrunde von ihm vorgestellt zu bekommen und habe ihn als sympathischen Menschen erlebt, der für sein Fachgebiet brennt.
Das Buch
In seinem Buch über das Sozialkreditsystem trägt er alles Wissenswerte auf dem Stand Frühjahr 2023 zusammen.* Der Titel spielt dabei auf die Zeit der Streitenden Reiche an (5. Jahrhundert v. Chr. bis 221 v. Chr.), einen Abschnitt der chinesischen Geschichte, der bekannt ist als die Wirren vor der Reichsgründung durch die Qin-Dynastie, während derer mehrere kleinere Königreiche um die Vormacht kämpften. Das gibt uns einen ersten Hinweis darauf, dass das Sozialkreditsystem nicht der monolithische, orwellsche Kontrollapparat ist, als den man es in westlichen Medien oft beschrieben bekommt, sondern ein Wust an verschiedenen Akteuren, die durch das Verfolgen eigener Interessen das große Ganze schwächen.
Brussee erzählt für ein breites Publikum und verbindet die Beschreibung etwas trockener politischer Dokumente und Initiativen mit persönlichen Anekdoten über seine Erlebnisse mit Sozialkredit „im Felde", zum Beispiel der Möglichkeit, die Hygieneklasse von Restaurants zu prüfen oder Fahrräder ohne Pfand zu leihen.
Das Buch beschreibt zunächst die verschiedenen Entwicklungsphasen, um dann die modernen Teilstücke des Systems zu beleuchten. Dabei zeigt Brussee, dass ein zusammenhängendes System als solches gar nicht existiert, sondern eine Fülle an Kampagnen verschiedener politischer Akteure (maßgeblich die Staatliche Kommission für Entwicklung und Reform und die Chinesische Volksbank), die unter dem Sammelbegriff Sozialkredit koexistieren (ich werde der Einfachheit halber trotzdem weiter von einem System sprechen). Ihm ist es wichtig zu zeigen, dass das System anders funktioniert als landläufig bekannt und dass somit die Gefahren andere sind als oft angenommen. Dabei relativiert oder verharmlost er die Überwachungskapazitäten des chinesischen Staates nicht, weist aber darauf hin, dass für deren Tätigkeiten kein Sozialkreditsystem notwendig wäre und dieses auch eher eine willkommene Ablenkung der westlichen Medienaufmerksamkeit bietet.
Besonders wichtig ist es ihm (und allen, die zu dem Thema forschen), klarzumachen, dass ein übermächtiger Score für jeden Bürger nicht existiert. Zwar gibt es einzelne Pilotprojekte in bestimmten Städten, die mit Scores für Individuen experimentieren oder experimentiert haben, der Hauptfokus liegt aber auf Unternehmen, zum Beispiel im Bereich Lebensmittelsicherheit, oder Steuern. Dort fungiert Sozialkredit als Verstärkung bereits bestehender Gesetze (die an sich bereits problematisch sein können). Ein allumfassender Score wäre dabei zum einen technisch gar nicht möglich, da viele Behörden ihre Daten nicht teilen wollen oder können, zum Anderen auch überhaupt nicht sinnvoll für die Machthabenden, da es für die Regierung keinen Wert hat eine willkürliche Zahl zu erhalten, in die z.B. politische Äußerungen, Hundehalterverhalten und schlechte Mülltrennung einfließen. Daraus lässt sich nichts Genaues ablesen und die Kontrollfunktion entfällt. Überwachung und Zensur funktionieren in China deshalb so gut, weil sie für die große Öffentlichkeit nicht wirklich wahrnehmbar sind.
Ebenso wichtig: Das System funktioniert nicht mit AI und Algorithmen, sondern ist größtenteils ein binäres System mit sogenannten schwarzen Listen (schlecht) und roten Listen (gut), teilweise noch auf Papier geführt. Dabei zeigt Brussee auf, dass solche Listen ihren Ursprung in westlichen Staaten haben, wo diese zumeist von Privaten geführt werden, zum Beispiel No-fly-Listen amerikanischer Fluggesellschaften oder der Schufa. In beiden Fällen sind die Umkehrung des Unschuldsprinzips und die Undurchsichtigkeit, wie diese Daten zusammengestellt und korrigiert werden können, ein großes Problem.
Brussee spricht zudem das Problem der terminologischen Unbestimmtheit von Sozialkredit an. Niemand weiß so recht, was alles unter Sozialkredit fallen kann, und die rechtliche Einbettung ist unklar. Es gibt ein paar sehr aktuelle Seiten über den Gesetzesentwurf zum System von Dezember 2022 (der nichts Neues gebracht hat). Es sollte hier angemerkt werden, dass diese Probleme in der chinesischen Rechtswissenschaft ausgiebig diskutiert werden und dass einige Ausläufer von Sozialkreditprojekten in der chinesischen Öffentlichkeit starken Widerspruch ausgelöst haben, so dass Lokalregierungen mit ihren Vorhaben zurückgerudert sind.
Gegen Ende gibt es ein Kapitel zur Corona-Pandemie, da dort das Potential und die Probleme des Systems wie unter einem Brennglas sichtbar geworden sind, zum einen die Flexibilität und Nützlichkeit des Systems im Falle unvorhergesehener Ereignisse, zum Anderen seine überschießende Tendenz bei der Bestrafung von Kleinstverstößen. Wie so oft in Sachbüchern populärwissenschaftlicher Art wiederholt sich das Buch ab der Hälfte ein wenig. Das letzte Kapitel vor dem Ausblick ist noch mal ein reines Mythbuster-Kapitel, bei dem es sich eher um eine Zusammenfassung des bereits Gesagten handelt.
Kritische Würdigung
Das Buch hat von Expertenseite eine äußerst positive Rückmeldung erfahren. Jeremy Daum, Betreiber der Website Chinalawtranslate, die haufenweise nützliche Übersetzungen chinesischer Gesetze und Blogeinträge zu verschiedenen rechtlichen Themen um China bietet, empfiehlt Brussee als Grundsatzlektüre zum Thema Sozialkreditsystem. Lob gab es auch von Rogier Creemers, Forscher zum chinesischen Datenschutz und einem der ersten westlichen Wissenschaftler, der über das Sozialkreditsystem geschrieben hat. Ohne mich auf eine Stufe mit diesen hohen Herren stellen zu wollen, kann ich das Buch jedem empfehlen, der sich für das Thema interessiert.
Weitere Literatur
Wer sich jetzt vor Spannung kaum halten kann, noch mehr zu erfahren, und das am besten umsonst, kann sich folgender Literatur zuwenden:
Allgemein zum Sozialkreditsystem
Katja Drinhausen, Vincent Brussee, China’s Social Credit System in 2021–From Fragmentation Towards Integration, 2021
Kendra Schaefer, Ether Yin, Understanding China’s Social Credit System–A Big-Picture Look at Social Credit as it Applies to Citizens, Businesses and Government, 2019
Rogier Creemers, “China’s Social Credit System: An Evolving Practice of Control”, 2018
Chuncheng Liu, “Multiple Social Credit Systems in China”, in: Economic Sociology, 2019, Vol. 21, No. 1, 22–32
Marianne von Blomberg, “The Social Credit System and China’s Rule of Law” Mapping China Journal, 2018, No. 2, 77–112
Über das Sozialkreditsystem und die darin verwendeten Daten bzw. Datenschutz gegenüber der Regierung in China
Lu Yu, Björn Ahl, China’s Evolving Data Protection Law and the Financial Credit Information System: Court Practice and Suggestions for Legislative Reform, in: Hong Kong Law Journal, Vol. 51, 2021, 287-308
Jamie P. Horsley, “How Will China’s Privacy Law Apply to the Chinese State?” New America, 2021
Rogier Creemers, “China’s Emerging Data Protection Framework”, Journal of Cybersecurity, 2022, Vol. 8, No. 1, 1–12
Hannah Klöber, The Regulation of Personal Data Accuracy in China’s Public Social Credit System, in: Hong Kong Law Journal, Vol. 53., No. 1, 2023, 375–401
* Kleiner Haftungsausschluss: Ich entschuldige mich im Voraus, falls ich Herrn Brussee etwas in den Mund legen sollte. Ich habe recht viele wissenschaftliche Artikel zum Sozialkreditsystem gelesen und kann Verwechslungen nicht vollkommen ausschließen.**
** Vincent hat sagt, das ist alles okay so.
Die kleinen Taschen und die Bekleidung für alte Puppen, einfach nur schön.
Leider bin ich völlig untalentiert für solche Sachen😔
Liebe Grüße
Petra
Kleidung für Püppi. Von deinen Nähkünsten bin ich total begeistert und es ist so schön beschrieben, dass das Lesen echt Spaß macht. Liebe Grüße Brigitte
Sehr schön zu sehen wie viel Spaß (und Zeit) du zum Nähen hast!
Es gibt an der Nähmaschine einen speziellen Stich für dehnbare Stoffe. Mit dem dürfte der Faden nicht reißen!
Für große Köpfe gibt es spezielle Tricks - einfach mal nachschauen wie das bei den Shirts für Babys gemacht wird!
Liebe Grüße
Miriam
Always insightful. Good work. 😀
Es regnet, endlich Zeit, die Beiträge zu lesen und nicht nur wahrzunehmen. Macht Freude, das zu lesen und obwohl ich das Buch und die Videos nicht kenne, kann ich mir eine Menge vorstellen! Biene
Sehr schön geschrieben!
Liebe Grüße
Christina