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4 Yuan und ein Schlüssel - Teil 4

  • Autorenbild: Vensch
    Vensch
  • 5. Feb. 2020
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 11. Apr.

Mein alter Reisebericht aus China von 2010



Der dreckigste Tag meines Lebens


8.10.10, Freitag, 7:20, Zug

Wir müssten bald in Shanghai sein, bzw. sind wir, aber noch nicht am Zielbahnhof. Wir stinken alle.

Hab seit gestern Morgen die gleichen Sachen an, Muskelkater von der Mauer und bin verschwitzt. Todesmutig habe ich meinen Koffer geöffnet, um mir die Haare zu kämmen und die Zähne zu putzen. Ich glaube, meine Haut mag dieses nicht-waschen-Modell-verschwitzt auch nicht.

Kirsten und Lisa sind schlechter Dinge, aber ich bin trotz zusätzlichem Schlafmangel gut drauf. Offensichtlich sind wir doch schon an unserem Zielbahnhof, Shanghai.

Jetzt warten wir auf unser Schicksal. Nein, auf unseren Bus zur Shibei Middle School. Da wir ja heute noch den ganzen Tag so durch die Gegend rennen müssen. Meine Augen wollen zufallen, aber mein Gehirn setzt seine Macht mit Gewalt durch und hält sie offen. Und das alles ohne Koffein.

Dafür habe ich fast sechs Stunden geschlafen. Die chinesischen Zugdurchsagen sind wesentlich dezenter als die deutschen, schlafen aus dieser Perspektive kein Problem…

Herr Dahmen und Frau Fehling (unsere Betreuungslehrer) haben eben versucht, ihre Begrüßungsrede ins Englische zu übersetzen. Sehr putzige Angelegenheit, hab mich nützlich gemacht.

Ich hab nicht nur schwarze Ringe unter den Augen, sondern auch unter den Nägeln. Hinreißend von Kopf bis Fuß. Aber ich beschwere mich kaum. Auch, wenn die Viererkabine im Zug nichts für Klaustrophobiker ist, ich nehme das mittlerweile mit Humor. Da muss man mit pioneer spirit rangehen, das hier ist meine Frontier.

Wir haben jetzt sogar eine chinesische SIM. Da stehen auch Anweisungen bei, die leider außer Frau Cao keiner lesen kann.

Der Empfang in der Schule war amüsant. Ein Chinese hat die ganze Zeit gebrabbelt und dann kam die Übersetzerin. Und ich hab Teile verstanden, ich bin fasziniert. Wir haben unseren Schulplan bekommen (ausschließlich auf Chinesisch, weite Teile kann ich lesen) und Herr Dahmen hat seine „Rede“ gehalten. Da hätte ich wirklich noch mal drüber gucken sollen…

In einer ¾ Stunde gibt es dann auch endlich Essen, Wasser haben wir schon bekommen. Während des Nachmittagsunterrichts müssen wir uns beschäftigen. Ich hab ehrlich gesagt keine große Lust auf Basketball bei meinem Mauerkater.

Haben unsere Chinesen kennengelernt. Meine ist niedlich. Aber ist schon eine etwas andere Stimmung hier. Es ist alles sehr wuselig. Außerdem wird man angestarrt, als ob man 3 Augen hätte. Ich brauche dringend Schlaf. Werde den Tag wohl überstehen, ich bin stark! Morgen ist ja wieder Schule, aber Sonntag ist doch frei.

Ich merke, wie mein Kopf zu extremer Matsche wird, das ist ein bisschen unangenehm. Ich spiele jetzt auf keinen Fall Basketball. Wir müssen morgen schon Tai Chi und so machen.

Hab telefoniert und geschlafen, jetzt ist es wieder viel besser. Solange nichts Großes passiert könnte das ein sehr netter Abend werden.

Eins von den Dinge, die Citrus’ (meine Gastschwester) Freundinnen mich gefragt haben: ob ich Lady Gaga höre. Sehr putzig. Und ob ich ihre Englisch Hausaufgaben mache, ich meinte, ich würds mir mal angucken.

Die (meine Gastfamilie) haben den fettesten BMW, den ich in meinem Leben gesehen habe. Steht irgendwas mit X5 dran… gold, mit braunen Sitzen, sieht nach Leder aus. Das Auto hat mehr Knöpfe, als ich Leute kenne. Ist n Automatik. Ich wette, ein Pedal ist Gas und das zweite Hupe. Das Handy vom Vater ist mit dem Auto gekoppelt. Zu Schulschluss gibt es hier extrem viele dicke Autos und dann wieder richtig alte. Diese Alt- und Neu Kluft scheint überall zu sein. Und immer wieder Zweiräder in allen Ausführungen, da soll hier leicht dranzukommen sein. Bei manchen von denen ist es kaum zu glauben, dass sie einen Motor haben.

Das Radio läuft, während ich auf Citrus warte, die noch die Klasse fegen (oder so) muss. Das ist unterhaltsam. Die Musik ist international und obwohl die Sprecher Chinesisch reden, klingen sie wie bei uns, die Stimmen angenehm, wie man's gewöhnt ist und nicht dieses Reden, das wie aufgeschreckte Hühner klingt, das man hier so oft hört. Jetzt hab ich zum ersten Mal wahrgenommen, dass es trotz der abgehackten Töne Satzmelodien gibt. Die Frage ist natürlich, ob das nicht vom Westen rübergeschwappt ist.

Wie die Autos stehen hier Gebäude nebeneinander, das gibt bei uns auch nicht. Aber darin ist das Leben genauso. Da muss ich auch noch fotografieren, diese Häuschen kann ich nicht so beschreiben.

Im Radio kommt sehr häufig das Wort „girlfriend“ vor. Bin ich schon sensibilisiert? Offensichtlich muss Citrus wirklich da sauber machen, die braucht schon lange. Oder die Schule ist zu groß. Ein Riesenteil und hat alles. Davon träumt mein Gymnasium in 20 Jahren noch.

Angeschnallt wird sich hier wohl auch nicht so viel. Entschuldigung im Voraus wegen der Assoziation mit Deutsch, aber ich habe das Gefühl, ich stelle konstant Deutungshypothesen auf und komme alle halbe Stunde zu einem neuen Ergebnis, bis zur nächsten revidierten Fassung.

Ich habe „mein eigenes Zimmer“. Es ist wohl das von Citrus, aber während ich hier bin, ist sie ausgezogen, die geben sich echt viel Mühe. Sie hat sogar gefragt, ob sie ihre Sachen aus dem Schrank nehmen soll, damit ich meine rein tun kann….

Ich nehme mir grade eine kurze Verschnaufpause. Zum Glück wohnen wir nicht weit von der Schule weg. Ich denke, gleich werde ich die Gastgeschenke verteilen und dann frage ich nach der Dusche, ich bin schon wieder/immer noch so müde.

Meine Familie ist echt nett, aber sie geben sich fast zu viel Mühe. Ich habe einen eigenen Teller mit Besteck bekommen, man ist vor den mäkeligen Europäern gewarnt worden.

Was sie aber nicht daran hindert, beim Essen zu schlürfen und zu schmatzen wie echte Chinesen. Ehrlich gesagt ist die Wohnung auch nicht sehr Feng Shui-ig nach meinem Eindruck. Allerdings kann ich mich täuschen, da ich nicht weiß, in welcher Himmelsrichtung die Haustür liegt.

Hab jetzt icq und Skype installiert, die Welt ist ein Dorf. Ich hoffe, ich blockiere den PC nicht zu sehr, aber ich will warten, dass jemand on kommt. Allerdings wohl nicht länger als 9. Mir wurde auch schon angeboten, zur Einkaufsstraße Nanjing Road zu fahren, aber heute Nacht muss ich wirklich schlafen und vor allem viel, sonst bin ich morgen nur knartschig und das will keiner, am allerwenigsten ich!

Es ist zwar noch nicht ganz klar, was wir morgen Nachmittag machen, aber gut wird’s nur halbwegs ausgeschlafen.

Facebook und Youtube funktionieren traditionell chinesisch tatsächlich nicht.

Der PC ist wirklich sehr langsam, aber ich will mich nicht beschweren, es gibt wenigstens einen.

Das Essen war übrigens lecker, hier gibt es sogar in der Familie ca. 5 verschiedene Sachen, das finde ich toll. Nur scheint es nicht so wirklich üblich zu sein, beim Essen zu trinken. Es gab Sellerie-Gemüse mit Huhn (das hatte ich schon öfter, ich steh derbe auf Sellerie), ein Stück Fleisch unbekannter Herkunft, die erste leckere Suppe (angeblich mit Huhn), Spinat/Mangold, Fleisch von einem „Tier, das im Wasser lebt und wie eine Schlange aussieht“, äußerst lecker! Und natürlich Reis. Ich gebe zu, das Stück Fleisch ist mit Stäbchen gar nicht so einfach (für untrainierte Grobmotorikeuropäer), aber ich hab es geschafft! *stolz fühl*

Aber auch wenn China toll ist, ich krieg ’n echten Kick aus Icq, ich brauch das.

Was ich nebenbei sehr putzig finde, ist Citrus’ Zimmer. Es ist ein absolutes Kinderzimmer und übervoll mit Disney, sogar mit Mickey Maus Tapete.

Boa hat mir das gut getan mit anderen zu Hause zu schreiben, ich bin wieder richtig zufrieden. Lieg schon im Bett und hör gleich wieder Patrice.

Das Badezimmer ist hier übrigens gar nicht so schlimm. Bei manchen meiner Verwandten siehts auch nicht besser aus.

Aber ich bin schon ein bisschen stolz auf mich, dass mich so was heute kaum noch kratzt.

Es macht mich immer noch fertig, wie sehr China grade meine Realität ist. Obwohl alles neu ist und ich so müde bin, ist das hier einfach meins… ich akklimatisiere mich zwar langsam, aber dafür richtig. Ich glaube, meine Chinesischlehrerin weiß, wovon sie redet.

Ich bin wirklich glücklich. Stehe permanent vor einer Gänsehaut! Jetzt hab ich wieder ein was-auch-immer-kommen-mag-Gefühl. Ich brauche übrigens auch hier keinen Adapter, was sehr praktisch ist, da ich ja keinen habe.

Eben als ich Citrus gute Nacht gesagt habe, habe ich sie auch gefragt, wann wir morgens zur Schule aufstehen müssen. Ich dachte so in meinem Kopf „sag nicht six thirty, sag nicht six thirty!“ Vielleicht ist sie eine sadistische Gedankenleserin oder vielleicht war es auch nur Intuition oder Schicksal… es ist six thirty.

Aber wies aussieht kann ich um die 10 Stunden schlafen, das ist gut!

Comments


Kommentare (6)

Invitado
15 may 2024

Die kleinen Taschen und die Bekleidung für alte Puppen, einfach nur schön.

Leider bin ich völlig untalentiert für solche Sachen😔

Liebe Grüße

Petra

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Invitado
19 abr 2024

Kleidung für Püppi. Von deinen Nähkünsten bin ich total begeistert und es ist so schön beschrieben, dass das Lesen echt Spaß macht. Liebe Grüße Brigitte

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Invitado
07 abr 2024

Sehr schön zu sehen wie viel Spaß (und Zeit) du zum Nähen hast!

Es gibt an der Nähmaschine einen speziellen Stich für dehnbare Stoffe. Mit dem dürfte der Faden nicht reißen!

Für große Köpfe gibt es spezielle Tricks - einfach mal nachschauen wie das bei den Shirts für Babys gemacht wird!


Liebe Grüße

Miriam



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Invitado
12 feb 2024

Always insightful. Good work. 😀

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Invitado
21 oct 2023

Es regnet, endlich Zeit, die Beiträge zu lesen und nicht nur wahrzunehmen. Macht Freude, das zu lesen und obwohl ich das Buch und die Videos nicht kenne, kann ich mir eine Menge vorstellen! Biene

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Invitado
30 jul 2023

Sehr schön geschrieben!

Liebe Grüße

Christina

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