4 Yuan und ein Schlüssel - Teil 11
- Vensch
- 6. Feb. 2020
- 7 Min. Lesezeit
Mein Reisebericht von China 2010

Bei Tom’s Tailor
15.10.10 Freitag, 7:30, Shibei School
Heute kein Baojie. Hätte ich gerne gegessen, lieber als den Blaubeermuffin, den ein paar andere Leute gern gehabt hätten. Citrus kommt heute nicht zur Schule, ich glaube, sie hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Das wird bestimmt abenteuerlich mit dem abholen heute.
Andrés Augen sind immerhin wieder normal.
Lisa hat mit ihren Gasteltern echt nicht das große Los gezogen. Gestern meinte ihre Gastmutter aus dem blauen raus „and what about the Jews?“
Der Plan wurde mal wieder geändert. Heute doch nicht Pudong, sondern Naturkundemuseum.
Ich hab übrigens den Cafe Latte probiert. Da ist garantiert Sojamilch drin! Aber das schmeckt man zum Glück nur dezent durch, der ist gar nicht so schlecht.
Ok, ich nehm alles zurück, was ich über Kalligrafie gesagt habe. Das ist der erste wirklich lustige Unterricht. Es ist zwar wieder nur ein Zeichen, aber wir malen die ganze Zeit mit unseren Pinseln. Ich kritzel fleißig Bildchen daneben.
Außerdem ist es definitiv machbar und gar nicht so schlecht erklärt.
Ein paar Leute haben sich auch schon eingesaut mit der Tinte, aber ich bin noch sauber!
In der Pause hab ich wieder auf dem Flügel gespielt, die hohen Töne sind leider ein bisschen verstimmt, aber es macht trotzdem Spaß.
Nach diesem durchaus entspannenden Vormittag geht es heute Nachmittag ins Science Museum. Ausnahmsweise haben wir Taxen genommen (20 Minuten Fahrt 40 Yuan für vier Leute), das heißt, wir haben uns fast alle verloren und das Sammeln wird noch ein bisschen dauern. Ich bin allerdings mit André, Mona, Carolin, Lisa und Kirsten schon mal auf der sicheren Seite. Ich finde die ganze Aktion ziemlich amüsant.
Aber mir ist eben klar geworden, dass wir nur noch fünf Tage hier sind. Fünf! Viel zu wenig, ich hab das Gefühl, ich steh schon mit einem Bein im Flieger…
Das Museum war ja mal nicht so der Renner. Alles Wichtige war auf Chinesisch und irgendwie waren die Attraktionen nicht ganz unserer Altersstufe angepasst. Vermutlich waren deshalb auch so viele Grundschul- und Kindergartenklassen da. Unglaublich, wie viele kleine Kinder da waren!
Wir sind dann rausgegangen, gegenüber war eine Einkaufspassage, aber das war auch nichts Wahres. Die Läden waren zu teuer und die Verkäufer wollten nicht wirklich verhandeln. Aber was soll man auch von einem Ort erwarten, an dem es Tom’s Tailor gibt`?
Also haben wir es uns auf dem Platz davor gemütlich gemacht und André hat mir Bauernskat beigebracht. Ich hab mich sogar gar nicht so schlecht geschlagen.
Die Akustik da war nicht schlecht, ich wollte was singen, aber André hat sich nicht getraut, das war ihm zu peinlich.
Zurück haben wir dann wieder die Metro genommen, vielleicht hatten Dahling Angst, dass wir wieder verloren gehen.
Ich war mir ja nicht sicher, wie das mit dem Abholen ist, weil Citrus heute Morgen anscheinend die Nerven durchgegangen sind, aber das war alles überhaupt kein Problem, der Zitronencousin hat schon vor der Schule gewartet. Sein Englisch ist wohl auch eher suboptimal, aber er meinte, er möge den deutschen Fußball, nachdem er gefragt hatte, wo ich denn herkäme.
Als ich dann in die Wohnung kam, wurde ich fast erschlagen. Von Geschenken. Mein Süßigkeitenberg hat seine ursprüngliche Form verdoppelt. Ich muss es irgendwie schaffen, den Zitronesen klarzumachen, dass sie damit aufhören müssen. Die tun so unglaublich viel für mich und beschenken mich tausendfach, das ist mir richtig unangenehm. Seitdem bin ich total unruhig, das kann ich alles gar nicht annehmen, aber man lässt mir keine Wahl. Genau wie mit meinem Zimmer. Ich habe versucht, Citrus klarzumachen, dass sie nicht fragen muss, ob sie etwas rausholen darf, wenn ich nicht drin bin, aber sie meinte, es wäre jetzt mein Raum, meine Zustimmung wäre da gar nicht nötig.
Das kann ich niemals zurückgeben. Ich habe drei verschiedene Süßigkeiten und einen Bildband mitgebracht! Außerdem übersteigt das wohl sogar den chinesischen Standard, was ich von den anderen so höre… irgendwo hab ich ja schon verdammtes Glück gehabt! Ich kann das nur halt nicht so ganz genießen…
Heute gab es zum ersten Mal Essen, das ich nicht mochte, jetzt bin ich richtig voll (man merke: Paradoxon). Denn auch wenn die Gurken und der Fisch ziemlich säuerlich (und letzterer ziemlich grätig) waren, waren der Sellerie mit Fleisch und die was-auch-immer-Suppe mal wieder vorzüglich. Ich liebe diese Auswahl.
Irgendwie bin ich komischerweise immer erst ein bisschen enttäuscht, wenn ich an den Tisch komme, weil es mir so wenig vorkommt (wenig Verschiedenes). Aber an den Restaurants in Peking darf man das auch nicht messen, was ich wahrscheinlich unterbewusst tue, da saßen wir mit etwa fünf Leuten mehr am Tisch. Dafür bin ich jedes Mal positiv überrascht und schlage (für meine Verhältnisse) richtig zu. Auch wenn ich einen Teil heute nicht mochte, hat der Rest es extrem wett gemacht.
Zusätzlich habe ich heute eins der letzten Geheimnisse der Zitronenfamilie gelüftet. Die junge Frau ist die Zitronenemutter und die Frau, die etwas jünger als die Oma aussieht ist „Nana“. Welchen „Rang“ sie genau bekleidet in der Familie, ob Verwandtschaftsgrad oder Haushälterin, bleibt wohl weiterhin im Zitronennebel verborgen.

Heute war übrigens der erste Tag, an dem wir im Hellen zur Shibei-School zurückgekehrt sind: Sonst war es immer schon dunkel, wenn wir aus der Zhongxing-station kamen. Da hab ich sofort ein hübsches Sonnenuntergangsfoto gemacht. Ansonsten habe ich heute aber kaum fotografiert, es war irgendwie nichts sonderlich Sehenswertes dabei. Der Platz vor dem Museum vielleicht, aber da war ich wohl zu sehr in mein Kartenspiel vertieft.
Nach diesem Themensprung folgt hier aber noch ein kurzer Einschub zum Thema Essen. Alles nicht Verwertbare, wie Knochen und Gräten, spucken die Chinesen wieder aus. Das weiß man ja. Aber wo spucken sie es hin? Neben ihre Schüssel auf den Tisch natürlich. Das weiß man doch! Nein, ernsthaft, das ist hier völlig normal! Daran hab ich mich noch nicht ganz gewöhnt, während ich mich an das Esstempo der Chinesen schon ziemlich gut angepasst habe.
Vor dem Essen hab ich eben schon meine Tasche gepackt, wir fahren nämlich gleich los. Ich bin nicht ganz sicher, wohin. Citrus meinte, wir (4, Zitronenmama, Citrus, Zitronencousin und ich) würden 1 ½ Tage nach „chinesischer Stadtname“ fahren und die Familie besuchen.
Ich bin gespannt. Ich weiß nicht, wo ich heute Abend schlafen werde (und unter welchen Umständen), oder wie weit wir fahren und wer und was genau uns da erwartet. Aber so was schockt mich gar nicht mehr, solche Ungewissheiten sehe ich nur noch mit amüsierter Neugierde, das gehe ich jetzt alles mit Pioneer Spirit an. Ich weiß, es wird nichts passieren, außer, dass es vielleicht hier und da ein bisschen unbequem werden könnte, aber das ist auch alles. Was diese Einstellung zu Ungewissheit angeht, hat mich diese Reise echt weitergebildet. Man muss das alles locker sehen.
Ich werde hier noch ein besserer Mensch, ich sag es immer wieder. Mittlerweile hab ich das Gefühl, ich kann alles schaffen. Vielleicht sogar Chinesisch lernen.
Ich hoffe, dieses Wochenende lerne ich wirklich was, ich hab das Gefühl, ich steh hier immer wieder wie der Ochs vorm Berg, dabei hör ich tatsächlich immer wieder Wortfetzen aus Gesprächen raus. Dann redet mich allerdings ein Chinese an und jegliches Vertrauen in meine Sprachkünste verpufft ins Nichts.
Jedoch: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Es ist eine Herausforderung und ich habe sie angenommen. Chinesisch wird mich nicht besiegen. Ich brenne schon auf meine nächste Stunde, ich werde meine Chinesischlehrerin mit Fragen löchern, bis sie aussieht, wie ein Schweizer Käse!
Offensichtlich hat sich Mama Zitrone verzählt, denn wir sind fünf, die Oma ist natürlich auch dabei.
Die Autofahrt hat etwa eine Stunde gedauert, ich saß schon nach zehn Minuten unbequem… ich merke das nicht mal, aber offensichtlich lehne ich mich instinktiv von Leuten, die ich kaum kenne, weg.
Heute hab ich auch wieder festgestellt, dass die bei Redelautstärke im Auto wirklich nichts kennen. Vor allem die Oma. Die ist mir ein bisschen unheimlich und sehr unsympathisch.

Jedenfalls sind wir jetzt in einem Hotel und das sieht übelst nobel aus. Mir graut davor, was mein Anteil hier kosten muss! Allein die Eingangshalle sieht aus, wie eins dieser Restaurants, in die man nie reingeht, weil man keine 25 Euro für einen Salat bezahlen will.
Wir haben auch keine Zimmer an einem Gang. Wir haben ein Eingangszimmer, das wie ein Wohnzimmer aussieht und von dort aus geht man eine Treppe hoch in einen Flur, von dem drei Zimmer und ein Bad abzweigen. Allein die Betten haben die Fläche des Abteils im Nachtzug Beijing-Shanghai und das Zimmer ist vermutlich so groß, wie meins zu Hause, nur, dass der Fernseher eher doppelt so groß ist.
Ab der Stadtgrenze Suzhou (so heißt die Stadt) sind wir dem Auto eines guten Freundes des Zitronenvaters gefolgt, ich hoffe, durch den ist das hier günstiger, mein schlechtes Gewissen ist eine nach oben offene Skala.
Seit wir in der Stadt sind, habe ich mehr vom „nächtlichen Leben“ (es ist grade mal 9, aber seit drei Stunden zappenduster) gesehen, als in Shanghai. Auf der Straße wollten sich zwei Chinesen prügeln und eine Frau stand dazwischen, um ebenjenes zu verhindern.
Außerdem habe ich eine Tibetbar gesehen. Faszinierend. Ob man da wohl rein darf? Und vor allem, wie sieht das aus, wenn man wieder raus will?
Ich bin unglaublich müde. Wenigstens teile ich mir mein (Riesen-)Zimmer mit Citrus, das verringert mein schlechtes Gewissen ein bisschen. Ich frag wohl nur noch, wann wir aufstehen und dann fall ich in Bett, bin ja eh schon über meine normale Zeit raus.
Heute konnte ich übrigens nachvollziehen, was Lisa meint mit dem Starren. Wenn man mal drauf achtet. Besonders im Fahrstuhl. Oder man sieht diesen verdutzen Gesichtsaudruck, dem ein 2. Blick folgt. Da ich zum Glück nicht blond bin (Gott sei Dank), falle ich erst beim 2. Blick auf, denn groß bin ich ja auch nicht. Deshalb machen auch nicht so viele Leute Fotos von mir. Da ist es doch wirklich mal praktisch, unscheinbar zu sein.
Das Badezimmer ist übrigens auch luxuriös ausgestattet, mit Dusche und Badewanne. Die erste, die ich hier gesehen habe. Sogar eine Waage gabs. Ich hatte so das Gefühl, ich hätte hier abgenommen, wegen dem gesunden Essen und der ewigen Rumrennerei und weil mein Gürtel plötzlich wieder so anders saß.
Jetzt freu ich mich auf meine „Unfinished Tale“s, auch wenns schon wieder eine Version von „Narn hin Hurin“ ist. Ich sitze sogar schon im Bett! Morgen um halb 9 raus, zwar suboptimal, aber besser als halb sieben.
Die kleinen Taschen und die Bekleidung für alte Puppen, einfach nur schön.
Leider bin ich völlig untalentiert für solche Sachen😔
Liebe Grüße
Petra
Kleidung für Püppi. Von deinen Nähkünsten bin ich total begeistert und es ist so schön beschrieben, dass das Lesen echt Spaß macht. Liebe Grüße Brigitte
Sehr schön zu sehen wie viel Spaß (und Zeit) du zum Nähen hast!
Es gibt an der Nähmaschine einen speziellen Stich für dehnbare Stoffe. Mit dem dürfte der Faden nicht reißen!
Für große Köpfe gibt es spezielle Tricks - einfach mal nachschauen wie das bei den Shirts für Babys gemacht wird!
Liebe Grüße
Miriam
Always insightful. Good work. 😀
Es regnet, endlich Zeit, die Beiträge zu lesen und nicht nur wahrzunehmen. Macht Freude, das zu lesen und obwohl ich das Buch und die Videos nicht kenne, kann ich mir eine Menge vorstellen! Biene
Sehr schön geschrieben!
Liebe Grüße
Christina